Pragmatische oder strikte Rechtsprechung?

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Gelöschter Nutzer

Pragmatische oder strikte Rechtsprechung?

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

Findet ihr im Grundsatz eher eine pragmatische oder eine strikte Rechtsprechung sinnvoll?

Die Begriffe sind untechnisch gewählt, damit meine ich aber:
- pragmatisch: ist das Ergebnis sinnvoll, entspricht es dem, was man in der echten Welt vorfindet, führt es zu absurden Folgen, ist es vermittelbar usw.

- strikt: welches Ergebnis liegt bei einer klassischen, logischen Betrachtung nach dem Gesetzeszweck und den Auslegungsmethoden am nächsten? Was fügt sich am ehesten nahtlos in das Gesetz und die bisherige Rechtsprechung ein? Wenn dies dann zu unliebsamen Konsequenzen führt, ist es eben so, dann muss der Gesetzgeber nachbessern, das ist nicht Aufgabe der Gerichte

Ganz grob gesprochen folgen gerade Obergerichte nach meinem Eindruck eher dem pragmatischen Ansatz. Bsp: verfassungswidrige Gesetze werden nicht für nichtig, sondern für vorübergehend anwendbar erklärt, Gesetze werden, sagen wir, großzügig ausgelegt, um unliebsame Strafbarkeitslücken zu vermeiden. Demgegenüber folgen etwa Professoren eher einem strikteren Ansatz.

Wie steht ihr dazu? Sollte die Rechtsprechung verstärkt eine Position im Sinne von, "so ist das Gesetz eben und wenn das ungerecht ist, muss es der Gesetzgeber lösen", einnehmen? Oder ist es gut und richtig, dass im Rahmen des rechtlich noch Zulässigen eher auf eine insgesamt pragmatische Lösung hingewirkt wird, und sei sie auch systematisch eher fernliegend und unintiuitiv?
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Tibor
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Re: Pragmatische oder strikte Rechtsprechung?

Beitrag von Tibor »

Was meinst du denn? Selbst deine Unterscheidung (sinnvolles Ergebnis vs. Ergebnis nach Auslegung) lässt mich im Unklaren. Auslegung oder Rechtsfortbildung? Bei der Auslegung hast du ja idR keine reine Wortlautklauberei sondern Sinn und Zweck zu berücksichtigen. Die Rechtsfortbildung ist ausdrücklich auch Aufgabe der Gerichtsbarkeit; allerdings (rein pragmatisch) der Obergerichte. Wenn eine Rechtsfrage durch Obergerichte/Bundesgericht mehrfach im Sinne "ist halt so, muss der Gesetzgeber ran" entschieden hat, wird es auch auf unterer Ebene wenig Sinn machen nun rechtsfortbildend davon abzuweichen, weil man dann Steine statt Brot gibt. In der nächsten Instanz wird die Sache anders entschieden, der Gewinner wird zum Kosten- und Zeitverlierer. Abweichung macht nur Sinn, wenn man wirklich neue/gute Argumente hat und dann entsprechend (wie bei einer abstrakten Vorlage) seine Entscheidung aufbaut, um eben eine Abweichung im Ober- bzw. Bundesgericht herbeizuführen.
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Gelöschter Nutzer

Re: Pragmatische oder strikte Rechtsprechung?

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

Ich meine es weniger bezogen auf den tatsächlichen Rechtsalltag, soweit eine gefestigte Rspr besteht, weil dort die von dir genannten Hürden bestehen, sondern mehr jenseits davon bzw in einer Utopie.

Ich kann es nicht gut in Worte fassen und natürlich ist es eine subjektive Betrachtung, aber ich habe schon den Eindruck, dass höchstrichterliche Rechtsprechung sich häufig an Billigkeitserwägungen iSv "welche Folgen hätte dieses Urteil für die Gesellschaft und sind die hinzunehmen" orientiert, denen letztlich alles (sicherlich mit guter Begründung) untergeordnet wird.

Es wäre müßig, hier nun eine groß angelegte Rechtsprechungsanalyse zu betreiben, aber bekannte Beispiele sind etwa strafrechtliche Fälle (alic usw) und der genannten Umgang mit verfassungswidrigen Gesetzen. Wenn ein Gesetz nichtig ist, warum nicht einfach sagen: dann ist es eben ungültig, dann muss der Gesetzgeber halt schleunigst eine Nachtschicht einlegen.

Ein anderes beliebiges Beispiel wäre etwa BGH, Urt. v. 20.03.2018, Az. X ZR 25/17, in welchem der BGH sein Ergebnis letztlich darauf gestützt hat (pointiert gesagt), es könne doch nicht sein, dass jemand ohne Reiserücktrittsversicherung kostensparend von einer Reise zurück tritt. Die zur Begründung gewählten Erwägungen sind durchaus nachvollziehbar und auch nicht unvertretbar, nur ist es bei einer nüchternen Betrachtung des konkreten Falles (ohne die Auswirkungen auf die Gesellschaft insgesamt) und der maßgeblichen Normen mE keinesfalls das naheliegendste Urteil.
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Ara
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Re: Pragmatische oder strikte Rechtsprechung?

Beitrag von Ara »

Du musst hier natürlich auch die Rechtsgebiete unterscheiden.

Im Strafrecht hast du meines Erachtens am Amtsgericht zum überwiegenden Teil den rein pragmatischen Ansatz. Das beste Beispiel ist, wenn es erkennbar an einer Strafbarkeit fehlt (oder massive Verfahrensfehler begangen wurden, die nicht mehr zu beseitigen sind), man aber ein Störgefühl hat ("Das ist schon ein Schwein") man dann den Angeklagten verurteilt und zu so einer lächerlich geringen Strafe, dass jedes Rechtsmittel wirtschaftlicher Schwachsinn ist. Wenn die StA ganz gemein ist, legt sie dann noch Sperrberufung ein, damit sich die Berufung auf keinen Fall lohnt. So kannst du als Strafrichter frei walten und schalten und immer im Hinterkopf "das passt schon irgendwie".

Als Strafverteidiger kann ich dir sagen: Eine ganz große Anzahl der Mandanten wird zwar im Ergebnis nicht zu "Unrecht" bestraft, aber in vielen Fällen gerade nicht für die Taten, die sie tatsächlich begangen haben. Ich glaube genau das wissen die Richter auch.

Revisionsrecht läuft halt ähnlich... Ich bin der festen Überzeugung, dass der BGH erst einmal auf sein Bauchgefühl hört und dann entscheidet, ob er das aufheben möchte oder nicht. Erst anschließend wird dann geschaut, wie man es irgendwie hinbiegen kann (im Optimalfall aus anderen Gründen als die die der Verteidiger aufgezeigt hat). So entstehen auch die absolut wilden revisionsrechtliche "Theorien" wie zB die "Widerspruchslösung". Die wird immer dann aus dem Hut gezaubert, wenn man das Urteil nicht aufheben möchte, obwohl es eigentlich nötig wäre. Das Gegenteil sind dann übertriebene Anforderungen an die Urteilsgründe, wenn der BGH mal wieder n Urteil aufheben möchte, was eigentlich relativ wasserdicht ist.

Die Frage der Sinnhaftigkeit: Pragmatische Lösungen sind nur dann sinnig, wenn die "rechtlich richtige" Entscheidung völliger Quatsch ist und keinem etwas bringt. Das hat man aber 1. extrem selten und 2. öffnet es Willkür Tür und Tor. Es hat übrigens auch den Effekt, dass sich die Gerichte erpressbar machen. Die Verteidigung wird nämlich dann dafür belohnt, dass sie Verfahren besonders groß und schwierig machen, um die Motivation bei Gericht zu steigern, dass "pragmatisch" (aka geringe Strafe) zu lösen. Was dann vor allem im Wirtschaftsstrafrecht dazu führt, dass je mehr Schaden bei unterschiedlichen Geschädigten jemand angerichtet hat und je mehr kriminelle Energie er zB für die Vertuschung aufgebracht hat, desto eher kriegt er eine "pragmatische Lösung". Das kann nicht im gesamtgesellschaftlichen Interesse liegen. Das ist nämlich genau der Punkt, warum die Gerichte "die Kleinen hängen und die Großen laufen lassen".

Von daher: Eine, ich greif mal deinen Begriff auf, strikte Anwendung von Recht und Gesetz ist vorzugswürdig. Auch hier kann man Augenmaß walten lassen. Das macht das Gericht ja häufig auch. Aber nur so bekommst du überhaupt eine berechenbare Justiz hin. Im Endeffekt muss ich wenn ich vorne was reinstecke (Sachverhalt) schon als Jurist wissen was ungefähr hinten rauskommt (Strafe). Das gelingt einem natürlich schon als Jurist, aber meist nicht durch subsumtion des Gesetzes, sondern aus sachfremden Erwägungen. Es gibt zB ganze Begehungsweisen, wo ich dem Mandanten am Anfang auf die Frage "Wie stehen die Chancen" sagen kann "Vor dem Amtsgericht werden sie ohne Zweifel verurteilt, in der Berufung haben wir gute Chancen". Sowas sollte es eigentlich nicht geben.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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Fyrion
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Re: Pragmatische oder strikte Rechtsprechung?

Beitrag von Fyrion »

Revisionsrecht läuft halt ähnlich... Ich bin der festen Überzeugung, dass der BGH erst einmal auf sein Bauchgefühl hört und dann entscheidet, ob er das aufheben möchte oder nicht
Ist das nicht, wie mehr oder weniger alle Gerichte arbeiten? Ich errinere mich noch genau an den Realitätsschock im Ref, als mein Richter mir genau auf diese Weise den Unterschied zwischen Uni und Praxis erklärte. Er sagte, dass ich in einem Unigutachten von den Tatbestandsmerkmalen zum Ergebnis komme. Er hingegen überlegt sich wer Recht bekommen soll und begründet das dann von diesem Ergebnis ausgehend anhand der dann zu subsumierenden Tatbestandsmerkmale.

Ehrlichgesagt hab ich auch so alle meine Urteile und Klausuren geschrieben und es hat ganz gut geklappt. Ein bisschen reinfühlen, wer nach Meinung des Klausurstellers hier der Schweinehund sein soll und dann das so gefundene Ergebnis begründen.
Liz
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Re: Pragmatische oder strikte Rechtsprechung?

Beitrag von Liz »

Mir scheint die Fragestellung nicht sonderlich glücklich zu sein. Denn zunächst einmal muss die Rechtsprechung konkrete Rechtsfälle lösen. Soweit ein Fall unterschiedlich gelöst werden kann, wird auch ein Gericht grds. erst einmal das Gesetz auslegen und die verschiedenen Lösungsalternativen durchdenken. Unter der Prämisse, dass es keine höchstrichterliche Rechtsprechung gibt (s. hierzu Tibor), ist aus meiner Sicht die Entscheidung vorzugswürdig, die einerseits rechtlich überzeugend ist, andererseits aber sowohl im konkreten Fall als auch als abstrakter Leitsatz gedacht in vergleichbaren Fällen zu einem lebenspraktisch überzeugenden Ergebnis führt. Insoweit mag die Rechtsprechung tendentiell eher zu "pragmatischen" Lösungsansätzen als der Professor im Elfenbeinturm gelangen, der aber auch eher selten damit konfrontiert wird, erklären zu müssen, warum sein Ergebnis jetzt eigentlich im konkreten Fall "gerecht" sein soll. Ein Aspekt in der Praxis ist insoweit sicherlich auch, dass ein größeres Augenmerk darauf liegt, was man eigentlich beweisen kann. Eine Lösung im Sinne von "sorry, so ist leider das Gesetz, da muss der Gesetzgeber ran" hilft den Parteien des konkreten Rechtsstreits indes nicht weiter, so dass man diese m. E. auch nur dann wählen sollte, wenn man tatsächlich nicht im Wege der Auslegung zu einem "besseren" Ergebnis gelangen kann (wobei es natürlich auch die Fälle gibt, in denen das "strikte" Ergebnis vorzugswürdig ist).


@Fyrion: Das scheint mir bei Deinem Ausbilder schon eine besonders ausgeprägte Form der Schweinehund-Theorie gewesen zu sein.
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Ara
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Re: Pragmatische oder strikte Rechtsprechung?

Beitrag von Ara »

@Fyrion: Das kommt mE tatsächlich stark auf den Richter drauf an. Also man muss ja auch tatsächlich sagen, dass in den meisten Fällen es relativ klar ist wer "das Schwein" ist.

Es gibt aber auch Richter (meist junge ambitionierte Proberichter) die tatsächlich in die genau andere Richtung vorpreschen. Ich hab aktuell zB n Fall da hab ich nicht einmal nen Nichteröffnungsantrag gestellt, weil ich die Sachlage sowas von ausreichend für ne Eröffnung fand, da hat der Richter die Sache nicht eröffnet (was zwar sehr überraschend aber sicherlich vertretbar ist). Nun hat die StA natürlich Beschwerde dagegen eingelegt und ich bin mir zu 99% sicher, dass das LG die Sache eröffnen wird. Das macht der Proberichter halt 2-3 mal und dann denkt er sich auch "fuck it". Vor allem merken sie da ja auch schnell: Damit tun sie keinem einen Gefallen. Der Angeklagte gewinnt dadurch nichts, er selbst spart sich dadurch nichts und im Zweifel ist das auch nicht gut für seine Karriere.

Man muss halt irgendwo eine Balance finden. Man sollte schon die Eier haben das Schwein laufen zu lassen, wenn es rechtlich so geboten ist, man darf sich dann aber mE schon gesonderte Mühe geben, um pragmatische Lösungen auf dem Boden des Gesetzes zu finden, um vielleicht doch ein "gerechtes" Urteil zu finden. Ich hoffe auch, dass es von den meisten Richtern der Anspruch ist (auch wenn viele dran scheitern :P).
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Re: Pragmatische oder strikte Rechtsprechung?

Beitrag von Liz »

Ara hat geschrieben: Montag 27. April 2020, 18:10 @Fyrion: Das kommt mE tatsächlich stark auf den Richter drauf an. Also man muss ja auch tatsächlich sagen, dass in den meisten Fällen es relativ klar ist wer "das Schwein" ist.
Nunja. Das kann aber gerade auch im Zivilprozess aufs Glatteis führen. Die Parteien spielen ja auch gerne damit, sich selbst als armes Häschen und die Gegenseite als ganz großen bösen Schweinehund darzustellen. Ich habe hier etwa ein Verfahren, in dem hat mein Vorgänger die Beklagtenseite als Schweinehund ausgemacht und ganz böse gequält, so dass die Akte inzwischen auf mehrere Bände angewachsen ist. Ich glaube der Beklagtenseite auch kein Wort, aber das ändert nichts daran, dass die Klage unschlüssig ist und schon vor Jahren hätte abgewiesen werden können.
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Ara
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Re: Pragmatische oder strikte Rechtsprechung?

Beitrag von Ara »

Das liegt aber daran, dass im Zivilprozess grundsätzlich beide Seiten Lügen und Schweine sind :P
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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Re: Pragmatische oder strikte Rechtsprechung?

Beitrag von Atropos »

Zu diesem Themenfeld gibt es im Bereich des Wirtschaftsrechts bzw. der ökonomischen Analyse des Rechts schon Jahrzehnte an Literatur. Aber wie immer in den Sozialwissenschaften, kann man die gefundenden Ergebnisse nicht wirklich wissenschaftlich ,,beweisen" (experts may disagree).

Aber ich meine, das grobe Fazit ist ungefähr so: In rein wirtschaftsrechtlichen Streitigkeiten ist möglichst viel freier Entscheidungsspielraum für den Richter ökonomisch besser, weil Richter regelmäßig (intuitiv) versuchen werden, das ökonomisch effizienteste Ergebnis zu finden. Entscheidungen, in denen das nicht gut gelingt, werden von den Beteiligten häufiger in die nächste Instanz getragen, als Entscheidungen in denen das gelingt und dann dort korrigiert etc.

Das gesamte Rechtssystem muss aber noch ausreichend konsistent bzw. vorhersagbar sein. Deswegen soll z.B. UK/US Common Law aus ökonomischen Gesichtspunkten bessere Lösungen finden als kontinantaleuropäisches Zivilrecht. Insgesamt also ein Lob des utilitaristischen Pragmatismus gegenüber einer zu sehr am Wortlaut der Norm verhafteten Rechtsauslegung :)

Insgesamt muss man das aber sehr nuanciert betrachten, weil die Unterschiede zwischen Common Law und Civil Law nicht so krass sind, wie oft postuliert + es manchmal auch überraschende Unterschiede gibt. Die angeblich so flexiblen Common Law Richter kleben z.B. bei Vertragstexten total am Wortlaut kleben und Scherze wie ungefragt § 242 BGB anwenden oder inhaltliche AGB-Kontrolle im Unternehmerverkehr würden ihnen nicht ohne Weiteres einfallen, während die angeblich am Gesetzestext klebenden deutschen Richter da zur Hochform auflaufen :)

Dieses Paper (http://econ.lse.ac.uk/staff/lfelli/papers/courts_consistency.pdf (Verwaister Link automatisch entfernt)) enthält auf Seite 5-7 eine gute Zusammenfassung.
PerryManson
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Re: Pragmatische oder strikte Rechtsprechung?

Beitrag von PerryManson »

Suchender_ hat geschrieben: Montag 27. April 2020, 16:01 Findet ihr im Grundsatz eher eine pragmatische oder eine strikte Rechtsprechung sinnvoll?
Mir macht es die meiste Freude, wenn ich beides vereinen kann, d.h. ich finde einen sauberen dogmatischen Ansatz, um zum "gerechten" Ergebnis zu gelangen.

Wobei das mit dem "pragmatisch" auch so eine Sache ist. Z.B. bleibt da wenig Spielraum, wenn man ein Sachverständigengutachten eingeholt hat. Außerdem hängt es häufig von Weltanschauung und persönlichen Werten ab, was "pragmatisch" ist. Da sollte man eher vorsichtig sein. Mir fällt z.B. im Mietrecht immer extrem auf, dass die AG sehr mieterfreundlich sind, die LG in der Mitte und der BGH recht vermieterfreundlich.
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immer locker bleiben
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Re: Pragmatische oder strikte Rechtsprechung?

Beitrag von immer locker bleiben »

Suchender_ hat geschrieben: Montag 27. April 2020, 16:01 Findet ihr im Grundsatz eher eine pragmatische oder eine strikte Rechtsprechung sinnvoll?
Als Grundsatz ist beides Quatsch. Wir wollen mal hoffen, dass sich Recht und Gesetz nicht zu weit von der Realität entfernt haben, sodass Urteile, die auf Recht und Gesetz beruhen, zu nachvollziehbaren Ergebnissen führen.

Die Fragestellung suggeriert einen Gegensatz zwischen Recht und Pragmatismus, den es so meines Erachtens nicht gibt. Wir allen orientieren uns im Leben an Recht und Gesetz, das sind unsere Spielregeln. Der Gesetzgeber orientiert sich bei der Schaffung oder Änderung von Gesetzen an unser aller Erfahrungen in eben diesem Leben. Im Normfall gibt es also eine Entsprechung zwischen Recht und Gesetz und dem, was wir so gut und richtig finden. Für die Gesetzgebung gibt es klare Regeln, unter anderem den Parlamentsvorbehalt und darunter das Wahlrecht. Ein einzelner Richter hat in seinem Gerichtssaal weder rechtlich die Aufgabe diese Regeln zu ändern oder zu ignorieren, noch sollte er diese Aufgabe haben. Die breite Masse der Urteile vor deutschen Gerichten entsprechen daher "dem, was man in der echten Welt vorfindet." Ausnahmen - siehe z. B. Frau Künast und die sozialen Medien - mag es geben, da sind allerdings die Urteile dann selten absurd, weil das Gesetz absurd ist, sondern weil das Gesetz nicht richtig angewendet wurde. Das nicht immer jeder die gesetzliche Wertung - und damit dann das Urteil - richtig und nachvollziehbar findet, bleibt in einer Demokratie, in der die Mehrheit über die Gesetze bestimmt, nicht aus.
Die Begriffe sind untechnisch gewählt, damit meine ich aber:
- pragmatisch: ist das Ergebnis sinnvoll, entspricht es dem, was man in der echten Welt vorfindet, führt es zu absurden Folgen, ist es vermittelbar usw.
Judex non calculat = das Ergebnis soll den Weg der Rechtsfindung nicht beeinflussen. Im Idealfall führt die richtige Rechtsanwendung zu Urteilen, die im Ergebnis "sinnvoll" sind. Das Recht dem Pragmatismus zu opfern halte ich für völlig falsch. Zumal derjenige, der das Recht auf seiner Seite hat, wohl wenig Verständnis dafür aufbringen dürfte, weshalb er sich jetzt aus rein pragmatischen Gründen mit weniger zufrieden geben soll. An dieser Stelle erlaube ich mir die Nachfrage, was Du mit "Pragmatismus" meinst. Dass jemand, der im Unrecht ist, Anspruch auf eine dem Recht widersprechende "pragmatische" Lösung haben soll, würde ich vehement bestreiten. Wie soll das gehen: "Ja, gut, das war ein Foulspiel, aber ich habe schon eine gelbe, mir jetzt gelb-rot zu geben, wäre keine pragmatische Lösung, da wären die anderen ja nur noch zu zehnt. Gegenvorschlag: der Trainer wechselt mich noch schnell aus und dann ist gut, ja?" Oder weg vom Fußball: "Mag ja sein, dass ich den Vertrag unterschrieben habe, aber jetzt ich kann meine Pflichten nicht erfüllen, ich habe da noch andere Dinge zu erledigen. Können wir das nicht pragmatisch regeln?" Die Antwort liegt auf der Hand: Nein, das kommt gar nicht in Frage!
- strikt: welches Ergebnis liegt bei einer klassischen, logischen Betrachtung nach dem Gesetzeszweck und den Auslegungsmethoden am nächsten? Was fügt sich am ehesten nahtlos in das Gesetz und die bisherige Rechtsprechung ein? Wenn dies dann zu unliebsamen Konsequenzen führt, ist es eben so, dann muss der Gesetzgeber nachbessern, das ist nicht Aufgabe der Gerichte
Das Prinzip der Gewaltenteilung ist bekannt (siehe oben)?
Ganz grob gesprochen folgen gerade Obergerichte nach meinem Eindruck eher dem pragmatischen Ansatz. Bsp: verfassungswidrige Gesetze werden nicht für nichtig, sondern für vorübergehend anwendbar erklärt, Gesetze werden, sagen wir, großzügig ausgelegt, um unliebsame Strafbarkeitslücken zu vermeiden. Demgegenüber folgen etwa Professoren eher einem strikteren Ansatz.
Längst nicht alle Professoren sind Dogmatiker.
Wie steht ihr dazu? Sollte die Rechtsprechung verstärkt eine Position im Sinne von, "so ist das Gesetz eben und wenn das ungerecht ist, muss es der Gesetzgeber lösen", einnehmen? Oder ist es gut und richtig, dass im Rahmen des rechtlich noch Zulässigen eher auf eine insgesamt pragmatische Lösung hingewirkt wird, und sei sie auch systematisch eher fernliegend und unintiuitiv?
Nicht erschrecken: Recht und Gesetz enthalten eine ganze Reihe von Billigkeitsregeln, die auch sicherstellen sollen, dass ein rechtlich einwandfreies Urteil ergehen kann, welches trotzdem "gerecht" oder von mir aus auch "pragmatisch" ist.

Meine Meinung: wenn man vorab abstrakt die Frage stellt, ob man lieber strikt nach Recht und Gesetz oder nach irgendetwas Anderem urteilen soll, dann ist die Antwort klar: die Justiz hat sich ausschließlich an Recht und Gesetz zu halten und an nichts anderes. Recht und Gesetz selbst lassen aber im Einzelfall ausreichend Spielraum für gerechte Einzelfalllösungen. "Pragmatismus" finde ich in diesem Zusammenhang keinen geeigneten Begriff. Ein Urteil muss nicht "pragmatisch" sein.
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Re: Pragmatische oder strikte Rechtsprechung?

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

Du störst dich an meiner Begrifflichkeit, gehst aber auf die eigentliche Frage leider nicht wirklich ein.

Es gibt in der Rechtswissenschaft bekanntlich anerkannte Auslegungsmethoden. Idealerweise sollte sich ein Subsumtionsergebnis mit diesen (oder anderen, ähnlich intersubjektiv nachvollziehbaren) Methoden begründen lassen. Nun ist ein Auslegungsergebnis offensichtlich nicht streng logisch oder wissenschaftlich überprüfbar. Außerdem gibt es oft verschiedene mögliche Lösungen desselben Problems.

Jedoch würde ich sagen, dass bei einer unbefangenen Herangehensweise in vielen Fällen manche Ergebnisse gleichsam logisch näher liegen als andere. Etwa, weil sie sich nahtlos in die Systematik, Entstehungsgeschichte und die gesamte bisherige Deutung einer Norm einfügen. Oder weil sie dem bekannten Wortsinn weitaus eher entsprechen.

Meine Frage betrifft also folgenden Fall:

Gesetzt, ein unbestimmter Rechtsbegriff ist auszulegen und es gibt einen gewissen Spielraum hierfür, der verschiedene denkbare Ergebnisse erfasst: <----------> Zumindest in manchen Fällen würde ich nun behaupten, dass einige Ergebnisse, die sich innerhalb dieses Spielraums bewegen, deutlich näher liegen als andere.

Meine Frage lautet nun: wenn ein Gericht einen Fall behandelt und sich bei der Auslegung eines Rechtsbegriffes innerhalb des genannten Spielraums bewegt, sollte sich das Gericht eher daran orientieren, welche Auslegung "logisch/systematisch" näher liegt oder eher daran, was im konkreten Fall zu einem gerechten Ergebnis führt?

Meine These wäre, dass die Rechtsprechung nicht selten zu letzterem tendiert. Das führt zu Urteilen, die teilweise widersprüchlich sind oder unter fadenscheinigen Gesichtspunkten differenziert werden ("hier liegt ein ausnahmsweiser Sonderfall vor"). Gleichzeitig wird die Rechtsprechung dadurch weniger vorhersehbar,
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Re: Pragmatische oder strikte Rechtsprechung?

Beitrag von immer locker bleiben »

Suchender_ hat geschrieben: Donnerstag 4. Juni 2020, 14:23 Gesetzt, ein unbestimmter Rechtsbegriff ist auszulegen und es gibt einen gewissen Spielraum hierfür, der verschiedene denkbare Ergebnisse erfasst: <----------> Zumindest in manchen Fällen würde ich nun behaupten, dass einige Ergebnisse, die sich innerhalb dieses Spielraums bewegen, deutlich näher liegen als andere.

Meine Frage lautet nun: wenn ein Gericht einen Fall behandelt und sich bei der Auslegung eines Rechtsbegriffes innerhalb des genannten Spielraums bewegt, sollte sich das Gericht eher daran orientieren, welche Auslegung "logisch/systematisch" näher liegt oder eher daran, was im konkreten Fall zu einem gerechten Ergebnis führt?
Jedem Versuch der Formulierung einer abstrakten Regel für solche Fälle würde Dir - wärest Du das OLG - der BGH mit dem Verweis um die Ohren hauen, dass dies "anhand aller Umstände des Einzelfalles abzuwägen ist." Genau das ist die Kunst der Rechtsprechung: in jedem Einzelfall anhand von Recht und Gesetz und der Wertungsspielräume, die diese Dir lassen, unter Berücksichtigung aller Umstände eine gerechte Entscheidung zu treffen.

Wer sich abstrakt vorab die Frage stellt, ob er lieber so oder lieber eher so entscheiden soll, macht schon den ersten Fehler: denn die Entscheidung hängt vom Sachverhalt ab, dieser muss gewürdigt werden. In einem Fall ist dann Lösung a richtig, in einem anderen, sehr ähnlichen aber nicht exakt gleichen Fall ist dann Lösung b richtig. Logik/Systematik ist eine Auslegungsmethode, aber nicht die einzige. Da die Auslegungsmethoden gleichrangig sind, wäre die These "Logik/Systematik geht im Zweifel vor", schlicht falsch. Genauso falsch wäre es aber, die Bindung an Recht und Gesetz mit dem Verweis auf einen ggf. übergeordneten Gerechtigkeitssinn aufzugeben - der vielleicht Dein Gerechtigkeitssinn ist, aber nicht zwingend dem anderer oder dem des Gesetzgebers entsprechen muss.
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Gelöschter Nutzer

Re: Pragmatische oder strikte Rechtsprechung?

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

Leider gehst du noch immer nicht wirklich auf meine Frage ein. Oder willst du ernsthaft in Zweifel ziehen, dass die Rechtsprechung mitunter - im Rahmen des noch rechtlich zulässigen - Ergebnisse findet, die im Einzelfall gerecht sein mögen, die aber in der Systematik der Norm, deren Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Zweck kaum noch eine Grundlage finden? Gerade deshalb werden nicht wenige Urteile ja auch - teilweise zurecht - scharf kritisiert.

Es geht mir nicht darum, ob etwas rechtlich zulässig ist, sondern welches Motiv der Richter im Rahmen des noch rechtlich Zulässigen verfolgt.
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