Glaubt ihr an Naturrecht?

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Gelöschter Nutzer

Glaubt ihr an Naturrecht?

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

Ich weiß, ein etwas altbackenes Thema aus dem Gemeinschaftskundeunterricht, aber es interessiert mich dennoch.

Glaubt ihr an Naturrecht und warum? Ich persönlich tue mich schwer damit. Mir ist klar, dass darauf schnell der Verweis auf die NS-Diktatur folgt. Nur kann man logisch eben nicht von einem "Wollen" (im Sinne von: wenn es kein Naturrecht gäbe, wäre das schlimm) auf ein "Sein"("es gibt ein Naturrecht") schließen.

Ansonsten beschränken sich die mir bekannten Naturrechtsargumente im Wesentlichen auf die folgenden Ansätze:

1. Bloße Behauptung mit gleichzeitigem moralischen Vorwurf: zweifelst du etwa wirklich die allgemeingültigen Menschenrechte an (vgl. bereits der NS-Verweis)? Eine eigentliche Begründung fehlt.
2. Ein Verweis auf Gott - schwierig, da ich nicht daran glaube.
3. Ein Verweis auf ein jedem Menschen innewohnendes Gerechtigkeitsgefühl - daran sind viele Punkte problematisch, u.a. erhebliche Divergenzen zwischen Kulturen, Ländern, aber sogar einzelnen Personen. Hinzu kommt, dass derartige inhärente Vorstellungen auch einfach evolutionär ("dem Stamm geht es besser und die Mitglieder pflanzen sich eher fort, wenn der A den B nicht einfach tot schlägt") und kulturell-gesellschaftlich zu erklären sind.

Ich persönlich würde deshalb sagen: die grundlegenden Rechte, die wir anerkennen, haben keine "höhere" oder transzendentale Rechtfertigung -- ihre positive Festlegung durch den Verfassungs- und Gesetzgeber ist aber sinnvoll und wünschenswert, um das Leid des Einzelnen zu minimieren und das Funktionieren der Gesellschaft zu fördern. Das beruht letztlich auf dem Wunsche der meisten Menschen, in ihrer Integrität und ihrem Wohlbefinden geachtet zu werden ("der Nachbar soll mich nicht einfach umbringen (können)"). Dieser Wunsch kann nur verwirklicht werden, wenn entsprechende Rechte gesetzgeberisch festgelegt und sodann geschützt werden.
Sektnase
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Re: Glaubt ihr an Naturrecht?

Beitrag von Sektnase »

Ja, aber nur an ein sehr rudimentäres Naturrecht. Mein Ansatz ist am ehesten der unter Nr. 3 genannte. Es mag Divergenzen zwischen den Kulturen etc. geben, aber ein Bruch dieses Rechts ist ja kein Argument gegen seine Geltung.
Letztlich würde ich dieses "Gerechtigkeitsgefühl" als ein biologisches begreifen. Wenn man ein kleines Kind mit großen Augen vor sich sitzen hat, wieso sollte man das dann totschlagen? Mir fehlt die Vorstellungskraft, dass eine Abneigung dagegen kulturell bedingt ist.

Die Schließung der gender-pay-gap würde ich jetzt nicht als naturrechtlich geboten ansehen.
In einem Umfeld, in dem mittelschwere Hurensöhnigkeit häufig zum Stellenprofil gehört, muss einen nicht wundern, wenn man Scheiße behandelt wird. -Blaumann
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Blaumann
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Re: Glaubt ihr an Naturrecht?

Beitrag von Blaumann »

Suchender_ hat geschrieben: Donnerstag 6. August 2020, 17:17Ein Verweis auf ein jedem Menschen innewohnendes Gerechtigkeitsgefühl - daran sind viele Punkte problematisch, u.a. erhebliche Divergenzen zwischen Kulturen, Ländern, aber sogar einzelnen Personen. Hinzu kommt, dass derartige inhärente Vorstellungen auch einfach evolutionär ("dem Stamm geht es besser und die Mitglieder pflanzen sich eher fort, wenn der A den B nicht einfach tot schlägt") und kulturell-gesellschaftlich zu erklären sind.
Das Argument verstehe ich nicht.

Unterstellen wir mal, dass das, was wir Naturrecht nennen, einem allgemeinen Gerechtigkeitsgefühl des Menschen entspringt und dieses sozio-evolutionär entstanden ist. Anhaltspunkte dafür gibt es einige. Grundlegende Aspekte von Gerechtigkeit verstehen bereits Kleinkinder. Grundlegende Konzepte von Gerechtigkeit werden interkulturell ähnlich verstanden, egal ob Du ein Naturvolk im Amazonas betrachtest, ein Land in Mitteleuropa oder die VR China.

Inwiefern spräche das gegen die Annahme von Naturrecht? Aus meiner Sicht wäre das doch das beste Argument dafür. Die Grundregeln menschlichen Zusammenlebens werden durch unsere Natur bestimmt. Insofern ergeben sich aus diesen Grundregeln unabhängig von der gelebten/durchgesetzten Rechtsordnung natürliche Rechte, die jedem Menschen innewonnen.
Gelöschter Nutzer

Re: Glaubt ihr an Naturrecht?

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

Ja, da stellt sich natürlich die Frage, was mit Naturrecht konkret gemeint ist. Ich bezog mich eher auf ein Naturrecht, welches quasi unabhängig von der menschlichen Gesellschaft und deren Verhalten besteht, also gleichsam eine Legitimität aus sich heraus hat, die losgelöst von Ort und Zeit ist.

Wenn man dagegen nur sagt, Naturrecht ist das, was "die Menschen" (welche? alle? die meisten? viele? wo? weltweit? in Europa? in Deutschland? in Berlin?) auf der Grundlage ihrer Evolution und Gesellschaft als Recht oder Unrecht empfinden, dann würde ich mich dem zwar prinzipiell schon anschließen. Nur lässt sich einem "Naturrecht", was wirklich fast alle Menschen teilen, sehr wenig entnehmen. Das zeigen schon historische und kulturelle Vergleiche:

- widerspricht die Todesstrafe dem Naturrecht, obwohl sie über Jahrtausende weltweit und heute immer noch von Milliarden von Menschen unterstützt wird?
- wie verhält es sich mit sonstigen grundlegenden Freiheiten (Meinung, Presse usw.)?
- Sklaverei?
- Diskriminierung und Rassismus?

Natürlich kann man nun behaupten, auch wenn die Menschen früher (oder in China, in den USA...) die Todesstrafe angewendet oder Sklaverei betrieben haben, "wussten sie intuitiv", dass es falsch war. Aber das wäre eine bloße Fiktion.

Wenn man also das Naturrecht mit dem Gerechtigkeitsempfinden gleichsetzt, könnte es kaum das leisten, was es meist leisten soll (ein Argument gegen die NS-Diktatur usw.).
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Re: Glaubt ihr an Naturrecht?

Beitrag von OJ1988 »

Sicher gibt es Verhaltensnormen, die in so gut wie jeder menschlichen Gesellschaft vorhanden und deswegen wohl eine anthropologische Konstante sind (bspw. das - grundsätzliche - Tötungsverbot). Spannend wird es ja aber erst, wenn es um den Konflikt zwischen Natur- und positivem Recht geht: Welche Instanz ermittelt das Naturrecht und verhilft es gegenüber dem positiven Recht zur Geltung?
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Muirne
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Re: Glaubt ihr an Naturrecht?

Beitrag von Muirne »

Unrecht im materiellen Sinne wie Sklaverei oder Vernichtungslager gibt es. Daran ändert formelles Recht nichts. Also ja, es gibt Naturrecht.
»Natürlich ist das herablassend. Torquemada ist mir gegenüber herablassend, ich bin esprit gegenüber herablassend. So ist die Nahrungskette in diesem Forum nunmal.« - Swann
Sektnase
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Re: Glaubt ihr an Naturrecht?

Beitrag von Sektnase »

Mhh bei Sklaverei finde ich es jetzt nicht mehr ganz so eindeutig.
In einem Umfeld, in dem mittelschwere Hurensöhnigkeit häufig zum Stellenprofil gehört, muss einen nicht wundern, wenn man Scheiße behandelt wird. -Blaumann
Gelöschter Nutzer

Re: Glaubt ihr an Naturrecht?

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

OJ1988 hat geschrieben: Donnerstag 6. August 2020, 19:22 Sicher gibt es Verhaltensnormen, die in so gut wie jeder menschlichen Gesellschaft vorhanden und deswegen wohl eine anthropologische Konstante sind (bspw. das - grundsätzliche - Tötungsverbot). Spannend wird es ja aber erst, wenn es um den Konflikt zwischen Natur- und positivem Recht geht: Welche Instanz ermittelt das Naturrecht und verhilft es gegenüber dem positiven Recht zur Geltung?
Aber Naturrecht ist ja weniger als abstraktes Gut relevant und mehr in konkreten praktischen Beispielen sowie in Abgrenzung zum positiven Recht.

Sicherlich mag es ein grundsätzliches Tötungsverbot (im Sinne von: töte keinen Menschen grundlos) als Teil der Moralvorstellungen geben, die so gut wie jeder Mensch teilt. Nur dürfte dieses auch so ziemlich in jeder Rechtsordnung positiviert worden sein, sodass der Mehrwert des "Naturrechts" fraglich wäre.

Spannend wird es ja erst, wenn wir konkrete, problematische Fälle anschauen, wie bspw.:

1. Die Todesstrafe.
2. Das Töten eines anderen als Rache oder Vergeltung oder Sühne für das Töten des eigenen Verwandten ("Blutrache").
3. Oder - unabhängig von dem Tötungsverbot - etwa Sklaverei, Folter usw.

Nun kann man zu zwei möglichen Ergebnissen kommen: Entweder man sagt, das Naturrecht ist so eng gefasst (universelle Vorstellungen so gut wie aller Menschen), dass es sich ohnehin zu keinem wirklich problematischen Fall verhält. Dann aber wäre das Naturrecht neben dem positiven Recht eine bloße Leerformel. Oder man fasst den Begriff weiter und erstreckt ihn auch auf ein Sklavereiverbot (usw.), aber dann bekommt man historisch-kulturelle Begründungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten: wie erklärt man, dass die Sklaverei früher weit verbreitet und anerkannt war? Dass das Töten von Nachbarstämmen oder Feinden auch jenseits des Krieges für unbedenklich gesehen wurde? All das passt nicht so recht zu universellen Werten, die angeblich in dem allgemeinen menschlichen Gerechtigkeitssinn zeit- und ortübergreifend begründet sein sollen.

Muirne hat geschrieben: Donnerstag 6. August 2020, 20:27 Unrecht im materiellen Sinne wie Sklaverei oder Vernichtungslager gibt es. Daran ändert formelles Recht nichts. Also ja, es gibt Naturrecht.
Begründung? Vgl. meine Ausgangsfrage:
Suchender_ hat geschrieben: Donnerstag 6. August 2020, 17:17 Ansonsten beschränken sich die mir bekannten Naturrechtsargumente im Wesentlichen auf die folgenden Ansätze:

1. Bloße Behauptung mit gleichzeitigem moralischen Vorwurf: zweifelst du etwa wirklich die allgemeingültigen Menschenrechte an (vgl. bereits der NS-Verweis)? Eine eigentliche Begründung fehlt.
Freedom
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Re: Glaubt ihr an Naturrecht?

Beitrag von Freedom »

Suchender_ hat geschrieben: Donnerstag 6. August 2020, 20:48 [...] Oder man fasst den Begriff weiter und erstreckt ihn auch auf ein Sklavereiverbot (usw.), aber dann bekommt man historisch-kulturelle Begründungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten: wie erklärt man, dass die Sklaverei früher weit verbreitet und anerkannt war? Dass das Töten von Nachbarstämmen oder Feinden auch jenseits des Krieges für unbedenklich gesehen wurde? All das passt nicht so recht zu universellen Werten, die angeblich in dem allgemeinen menschlichen Gerechtigkeitssinn zeit- und ortübergreifend begründet sein sollen.
Zu diesem Teilaspekt ein paar assoziative Gedanken, die jetzt über die ursprüngliche Frage hinausgehen mögen, aber nicht minder interessant sind:

Dass es einige "Böse" Menschen gibt, die gezielt zu ihrem Vorteil handeln und dabei bewusst die Rechte anderer missachten ist das Eine. Dass es zu allen Zeiten "Gute" Menschen gab, die dagegen vorgehen, die das vertreten, was viele denken und dafür riskieren, eingesperrt oder umgebracht zu werden, ist das andere.

Das Problem zu allen Zeiten ist und war ein anderes: Die Gleichgültigkeit der Mehrheit der Menschen. Ein Beispiel, sinngemäß wiedergegeben aus "Eine kurze Geschichte der Menschheit": Da ist der liebende Familienvater, der seiner süßen Tochter Geschenke von fernen Reisen mitbringt und sich im täglichen Leben wie ein netter Mensch benimmt. Gleichzeitig investiert er nebenbei in den Sklanvenhandel, bei dem Menschen aus Afrika verschleppt werden und nach Amerika gebracht um auf Plantagen zu arbeiten. Würde er danebenstehen, wenn der Afrikaner entführt wird und dessen Frau heulend daneben steht - er würde davon Abstand nehmen. Aber er denkt nicht darüber nach, er nimmt es hin, es ist der Zeitgeist, jeder der sein Geld gut anlegen will macht es (So im Übrigen auch beschrieben im Abenteuerroman Robinson Crusoe. Da ist der Arme aus Europa der es mit Handel zu Geld gebracht hat - und der N-Wort Handel ist lukrativ, also wird er zu Geld gemacht. Das ist wie etwas selbstverständliches beschrieben in diesem im Übrigen tollen und fesselnden Roman, als wäre nichts dabei, als wäre es normal).

Falls jetzt jemand die Nase rümpft und die moralische Keule schwinkt, die Menschen wären damals eben böser gewesen: (Freilich, Menschen und Tiere sollte man nicht vergleichen). Und doch lautet auch ein sinngemäßes Zitat aus "Eine Kurze Geschichte der Menschheit": Sollten wir irgendwann herausfinden, dass Tiere genauso ein Gefühls- und Liebesleben haben wie wir Menschen, Sozialkontakte, Freizeitgestaltungen bei denen sie sich wohlfühlen - dann wäre womöglich die Massentierhaltung der heutigen Zeit eines der größten Verbrechen der Menscheit. Und tatsächlich: Wir alle wissen im Hinterkopf - irgendwie ist das nicht richtig. Männliche Küken, die kurz nach ihrer Geburt geschreddert werden?! Gibt es Youtube-Videos dazu. (Die es nicht gäbe, wenn man derartige Kameraaufnahmen nicht gut finden würde mit dem Argument, für die Kontrolle wäre der Staat zuständig, das wäre Hausfriedensbruch usw.) Gleichzeitig schauen wir Videos auf Youtube von süßen Tierküken "oooooch wie Süüüüßßßßßß". Und doch nehmen wir es hin, denn es ist "natürlich". Wir sehen die glücklichen Hühner auf der Eierverpackung und glauben den Mist. Und warum? Weil wir gleichgültig sind. Weil unsere Gleichgültigkeit und unser Profitdenken das Naturrecht in uns überlagert.

Wäre ich jetzt risikofreudig würde ich weitere Vergleiche ziehen mit anderen Ereignissen in der Geschichte, aber davon lasse ich lieber die Finger. Informiert man sich heutzutage aber mal über Lager bestimmter Bevölkerungsgruppen in China und die Möglichkeit, dort schnell neue Organe zu bekommen, könnte man die Frage aufwerfen, ob wir heute so viel besser sind, wenn wir das billige Handy aus demselben Land kaufen.

Moral und Ethik im Kopf haben wahrscheinlich die meisten durchschnittlichen Menschen. Aber solange wir vom "UNrichtigen" profitieren oder davon nicht betroffen sind und wir die Möglichkeit haben, es zu verdrängen, tun wir es auch. Desto näher es zu uns ist - geographisch und durch Verbundenheit - desto schwieriger ist es. Deshalb geben wir auch dem Obdachlosen den Euro und nicht dem Kind, das gerade in Afrika verhungert, obwohl der Obdachlose den Euro für Alkohol ausgibt.

Möglicherweise - ich mag mich hier täuschen - hilft auch die Intelligenz dabei, sich der Widersprüche bewusst zu werden und nicht einfach das zu tun, was alle um einen herum tun.

Damit sind wir zugleich beim zweiten Aspekt: Wie erklären wir das gegen Naturrecht verstoßende Verhalten gegen eine andere Gruppe: Indem wir Gruppen erstellen. Wir gegen die anderen. Wahrscheinlich angeboren, Evolution, Stämme gegeneinander?! So sehr ich auch darüber lachen möchte, widert es mich doch eher an, wenn ich den Hass sehe, den Fussballfans gegen den Konkurrenz-Verein empfinden. Der so weit führt, dass man den Namen des Konkurrenz Vereins nicht aussspricht. Man kann darüber lachen, "Der meint das doch nicht so, ist alles nur Spaß". Das ist freilich kein Hass, nur "Gesunde" Konkurrenz. Ist es das? Oder kommt hier das tiefe und primitive Bedürfnis der Menschen zum Ausdruck, "Sich" Gegen "Die anderen" Abzugrenzen? Haben wir dasselbe bei der Debatte "Links" Gegen "Rechts"? Wenn ich mich nett im Stupa mit einer Frau über Natur unterhalte, und sobald die Sitzung anfängt und sie sieht, dass ich bei der Konkurrenz bin und sie danach nicht mal mehr "Hallo" sagen möchte, ist das noch gesunde Konkurrenz? Oder ist es ein in Menschen tief verankertes Bedürfnis, die "Eigenen" zu lieben und "die anderen" zu hassen? (Was übrigens der Grund ist, dass ich mich aus jeder Art von Politik zurückgezogen habe, es widert mich einfach nur an, wie man die Menschlichkeit beiseite lässt wegen bescheuertem "Gruppendenken".

Wie rechtfertigt man den Hass? Immer mit demselben Argument: "Die anderen haben angefangen, deshalb darf ich mich revanchieren. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Dabei übersieht man freilich: Jeder sieht immer das als Startpunkt an, wo er selbst das erste mal betroffen ist. Was davor war, interessiert nicht. Ich kann Game of Thrones neu drehen, 20 Jahre davor, und schon sind die Guten die Bösen.

Ich glaube es gibt so etwas wie Naturrecht, es gibt so etwas wie Werte, die allem menschlichen Denken zu Grunde liegen sollten und das auch bei vielen tun. Aber das Gruppendenken (das mir ziemlich fremd ist, weshalb ich mich auch für eine Person halte, die stark dafür geeiget ist, neutral zu vermitteln) und die Gleichgültigkeit (bei der ich mich nicht ausnehme, ich esse fleisch, aber ich weiß, dass es nicht richtig ist) stehen dem gegenüber und sind stark. Sie verdammen das Naturrecht zu einem Schattendasein, weil sie uns wichtiger sind.

edit: Das mit dem naturrecht war unpräzise, siehe unten, ich würde es doch eher über die Ethik begründen.
Zuletzt geändert von Freedom am Freitag 7. August 2020, 10:18, insgesamt 3-mal geändert.
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Tibor
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Re: Glaubt ihr an Naturrecht?

Beitrag von Tibor »

Ist die Frage im Betreff bewusst so gewählt?
"Just blame it on the guy who doesn't speak English. Ahh, Tibor, how many times you've saved my butt."
Gelöschter Nutzer

Re: Glaubt ihr an Naturrecht?

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

Freedom hat geschrieben: Donnerstag 6. August 2020, 21:37
Suchender_ hat geschrieben: Donnerstag 6. August 2020, 20:48 [...] Oder man fasst den Begriff weiter und erstreckt ihn auch auf ein Sklavereiverbot (usw.), aber dann bekommt man historisch-kulturelle Begründungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten: wie erklärt man, dass die Sklaverei früher weit verbreitet und anerkannt war? Dass das Töten von Nachbarstämmen oder Feinden auch jenseits des Krieges für unbedenklich gesehen wurde? All das passt nicht so recht zu universellen Werten, die angeblich in dem allgemeinen menschlichen Gerechtigkeitssinn zeit- und ortübergreifend begründet sein sollen.
Zu diesem Teilaspekt ein paar assoziative Gedanken, die jetzt über die ursprüngliche Frage hinausgehen mögen aber nicht minder interessant sind:

Dass es einige "Böse" Menschen gibt, die gezielt zu ihrem Vorteil handeln und dabei bewusst die Rechte anderer missachten ist das Eine. Dass es zu allen Zeiten "Gute" Menschen gab, die dagegen vorgehen, die das vertreten, was viele denken und dafür riskieren, eingesperrt oder umgebracht zu werden ist das andere. Das Problem zu allen Zeiten ist und war ein anderes: Die Gleichgültigkeit der Mehrheit der Menschen. Ein Beispiel, sinngemäß wiedergegeben aus "Eine kurze Geschichte der Menschheit": Da ist der liebende Familienvater, der seiner süßen Tochter Geschenke von fernen Reisen mitbringt und sich im täglichen Leben wie ein netter Mensch benimmt. Gleichzeitig investiert er nebenbei in den Sklanvenhandel, bei dem Menschen aus Afrika verschleppt werden und nach Amerika gebracht um auf Plantagen zu arbeiten. Würde er danebenstehen, wenn der Afrikaner entführt wird und dessen Frau heulend daneben steht - er würde davon Abstand nehmen. Aber er denkt nicht darüber nach, er nimmt es hin, es ist der Zeitgeist, jeder der sein Geld gut anlegen will macht es (So im Übrigen auch in etwa beschrieben im Abenteuerroman Robinson Crusoe. Da ist der Arme aus Europa der es mit Handel zu Geld gebracht hat - und der N-Wort Handel ist lukrativ, also wird er zu Geld gemacht. Das ist wie etwas selbstverständliches beschrieben, als wäre nichts dabei, als wäre es normal).

Falls jetzt jemand die Nase rümpft und die moralische Keule schwinkt, die Menschen wären damals eben böser gewesen: (Freilich, Menschen und Tiere sollte man nicht vergleichen). Und doch lautet auch ein sinngemäßes Zitat aus Eine Kurze Geschichte der Menschheit: Sollten wir irgendwann herausfinden, dass Tiere genauso ein Gefühls- und Liebesleben haben wie wir Menschen, Sozialkontakte, Freizeitgestaltungen bei denen sie sich wohlfühlen - dann wäre womöglich die Massentierhaltung der heutigen Zeit eines der größten Verbrechen der Menscheit. Und tatsächlich: Wir alle wissen im Hinterkopf - irgendwie ist das nicht richtig. Männliche Küken, die kurz nach ihrer Geburt geschreddert werden. Gleichzeitig schauen wir Videos auf Youtube von süßen Tierküken "oooooch wie Süüüüßßßßßß". Und doch nehmen wir es hin, denn es ist natürlich. Wir sehen die glücklichen Hühner auf der Eierverpackung und glauben den Mist. Und warum? Weil wir gleichgültig sind.

Wäre ich jetzt risikofreudig würde ich weitere Vergleiche ziehen mit anderen Ereignissen in der Geschichte, aber davon lasse ich lieber die Finger. Informiert man sich heutzutage aber mal über Lager bestimmter Bevölkerungsgruppen in China und die Möglichkeit, dort schnell neue Organe zu bekommen, könnte man die Frage aufwerfen, ob wir heute so viel besser sind, wenn wir das billige Handy aus demselben Land kaufen.

Moral und Ethik im Kopf haben wahrscheinlich die meisten durchschnittlichen Menschen. Aber solange wir davon profitieren oder davon nicht betroffen sind und wir die Möglichkeit haben, es zu verdrängen, tun wir es auch. Desto näher es zu uns ist - geographisch und durch Verbundenheit - desto schwieriger ist es. Deshalb geben wir auch dem Obdachlosen den Euro und nicht dem Kind, das gerade in Afrika verhungert, obwohl der Obdachlose den Euro für Alkohol ausgibt.

Möglicherweise - ich mag mich hier täuschen - hilft auch die Intelligenz dabei, sich der Widersprüche bewusst zu werden und nicht einfach das zu tun, was alle um einen herum tun.

Damit sind wir zugleich beim zweiten Aspekt: Wie erklären wir das gegen Naturrecht verstoßende Verhalten gegen eine andere Gruppe: Indem wir Gruppen erstellen. Wir gegen die anderen. Wahrscheinlich angeboren, Evolution, Stämme gegeneinander?! So sehr ich auch darüber lachen möchte, widert es mich doch eher an, wenn ich den Hass sehe den Fussballfans gegen den Konkurrenz-Verein empfinden. Der so weit führt, dass man den Namen des Konkurrenz Vereins nicht aussspricht. Man kann darüber lachen, "Der meint das doch nicht so, ist alles nur Spaß". Das ist freilich kein Hass, nur "Gesunde" Konkurrenz. Ist es das? oder kommt hier das tiefe und primitive Bedürfnis der Menschen zum Ausdruck, "Sich" Gegen "Die anderen" Abzugrenzen? Haben wir dasselbe bei der Debatte "Links" Gegen "Rechts"? Wenn ich mich nett im Stupa mit einer Frau über Natur unterhalte, und sobald die Sitzung anfängt und sie sieht, dass ich bei der Konkurrenz bin und sie danach nicht mal mehr "Hallo" Sagen möchte, ist das noch gesunde Konkurrenz? Oder ist es ein in Menschen tief verankertes Bedürfnis, die "Eigenen" zu lieben und die anderen zu hassen? (Was übrigens der Grund ist dass ich mich aus jeder Art von Politik zurückgezogen habe, es widert mich einfach nur an, wie man die Menschlichkeit beiseite lässt wegen bescheuertem "Gruppendenken".

Wie rechtfertigt man den Hass? Immer mit demselben Argument: "Die anderen haben angefangen, deshalb darf ich mich revanchieren. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Ich glaube es gibt so etwas wie Naturrecht, es gibt so etwas wie Werte, die allem menschlichen Denken zu Grunde liegen sollten. Aber das Gruppendenken (das mir ziemlich fremd ist, weshalb ich mich auch für eine Person halte, die stark dafür geeiget ist, neutral zu vermitteln) und die Gleichgültigkeit (bei der ich mich nicht ausnehme, ich esse fleisch, aber ich weiß, dass es nicht richtig ist) stehen dem gegenüber und sind stark.
Das sind an sich interessante Gedanken, allerdings begründen sie m.E. nicht wirklich die Existenz eines Naturrechts, sondern setzen es eher voraus. Der einzige wirkliche Begründungsansatz, den ich erkennen kann, ist, salopp gesagt: "eigentlich wissen alle Menschen, was richtig ist (etwa: Sklaverei ist unmoralisch), verschließen aber die Augen vor der "wahren" Erkenntnis. Naturrecht ist also quasi die Moralvorstellungen, die alle Menschen teilen würden, wenn sie sich nur gehörig anstrengen würden."

Das überzeugt mich aber nicht wirklich. Schon kulturelle Unterschiede widerlegen diesen Ansatz: aus westlicher Sicht sind etwa die Freiheitsgrundrechte von zentraler Bedeutung. Einige asiatische Staaten und die meisten deren Bewohner sehen das aber evident ganz anders. Es sind eben nicht nur die paar "bösen Diktatoren", welche ihr Volk einsperren. Viele Werte, die für uns völlig selbstverständlich sind, haben in der Gesellschaft und dem Bewusstsein der Menschen vor Ort keinerlei Grundlage.

Auch geschichtlich würde ich dir nicht zustimmen. Natürlich gab es immer schon Menschen, die etwa Sklaverei kritisiert haben. Aber ich wage es sehr zu bezweifeln, ob die meisten Menschen, selbst wenn sie daneben gestanden hätten, wirklich Sklaverei abgelehnt hätten.

Selbst wenn es so wäre, dass "in Wirklichkeit" die meisten Menschen zu jedem Zeitpunkt auch konkrete Moralvorstellungen hatten, die in etwa unseren heutigen aufklärerischen Werten entsprechen, so bliebe das Naturrecht doch eine Leerformel, eine bloße Hülse. Du sagst es ja selbst: vielleicht ist Teil dieses Naturrechts auch das Verbot des heutigen Umgangs mit Tieren. Das können wir aber gerade nicht mit Sicherheit sagen. Genauso können wir aber auch nicht beurteilen, ob unsere heutigen Moralvorstrellungen wirklich "dem Naturrecht" entsprechen. Dann können wir es aber auch kaum heranziehen, und als Gegensatz zum positiven Recht präsentieren - wir können ja nicht einmal sicher wissen, was es wirklich beinhaltet.

Tibor hat geschrieben: Donnerstag 6. August 2020, 21:37 Ist die Frage im Betreff bewusst so gewählt?
Was meinst du? Den Begriff "glauben"?
Freedom
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Re: Glaubt ihr an Naturrecht?

Beitrag von Freedom »

edit: In der Tat habe ich hier im letzten Beitrag glaube ich Naturrecht und Erkennen durch Ethik zusammengeschmissen.

Naturrecht basiert doch gerade darauf, dass alle Menschen, unabhängig von der Zeit in der sie leben und unabhängig von ihrer Bildung und Erziehung bestimmte Werte teilen? Wenn wir das so verstehen, müsste das Naturrecht doch rein genetisch in den Menschen verankert sein, sodass es immer und unabhängig von der Situation in der Menschen aufwachsen, durchkommt?

In diesem Sinne kann es kein Naturrecht geben. Im Gegenteil, Menschen sind unendlich formbar, unendlich abhängig von den Bedingungen in denen sie aufwachsen und die ihnen als "Normal" eingetrichtert werden.

Im Übrigen ist es m.E. auch schon im Sinne der Logik unmöglich, darüber Aussagen zu treffen, wenn dann am ehesten durch empirische Forschung. Jeder von uns kann mit seinen individuellen Erfahrungen, seiner Lebenserfahrung, seiner Erziehung, seien Meinung sagen. Nur schreibt hier niemand der in Afrika aufgewachsen ist, niemand der im dritten Reich sozialisiert wurde, niemand der im 15ten Jahrhundert gelebt habt, es schreibt, selbst innerhalb Deutschlands, nichtmal jemand mit, der einen IQ von 80 hat und einfache Tätigkeiten ausübt.

Wie also um alles in der Welt soll der Einzelne, durch Logik und Lebenserfahrungen imstande sein, eine Aussage darüber zu treffen, ob es so etwas wie Naturrecht gibt? Das ist unmöglich.
Zuletzt geändert von Freedom am Freitag 7. August 2020, 10:20, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Glaubt ihr an Naturrecht?

Beitrag von Freedom »

Um daher ein wenig konkreter die Frage zu beantworten: Ich glaube nicht an Naturrecht.

Aber ich glaube an die Ethik, die über den aktuellen Gesetzen steht (Damit geht keine Nicht-Anerkennung des GG einher, denn bereits wenn wir international denken, über das GG hinaus, in Bereichen in denen finanziellen Interessen große Rollen spielen) dann merken wir, dass wir mit den bestehenden Gesetzen nicht sehr weit kommen. Ob das GG geeignet ist, für sämtliche relevanten Konstellationen Antworten zu liefern ist unter Wissenschaftlern sicherlich umstritten. So sehr ich auch an unser GG glaube, zeigt doch schon der Vergleich mit den USA, wo ich nicht ohne Belustigung im Studium zur Kenntnis genommen habe, dass dort einige Strömungen vertreten, man dürfe deren Verfassung nur historisch auslegen, dass Gesetze in ihren Antworten immer begrenzt sind. Lässt sich das Problem wirklich über die teleologische Auslegung lösen? Legen wir wirklich noch den Gesetzestext aus, wenn wir interpretieren, was die Verfasser damals wahrscheinlich in Bezug auf heutige Sachverhalte gemeint haben könnten?

Da kommt die Ethik ins Spiel: Die Suche nach dem "Richtigen" Ergebnis, unabhängig von finanziellen Interessen, von eigenen Erfahrungen. Es dürfte außerordentlich schwierig sein, Menschen zu finden, die sich von jeder Art von Voreingenommenheit frei machen können. Aber sollte uns das daran hindern, nach diesem Ideal zu streben, hinein in "das war schon immer so, es geht halt um Geld, also vertrete ich dasselbe?".

Sprich: Gib mir intelligente Menschen, auch aus anderen Kulturkreisen oder Zeiten, die sich frei machen können von ihrer Erziehung, von ihren Erfahrungen, von ihrem Zeitgeist, die Dinge in Frage stellen können, die völlig unabhängig sind von eigenen Interessen oder den Interessen "Ihrer Gruppe" und ich denke, wenn ich mit denen diskutiere können wir uns auf Regeln einigen, die richtig sind und die gelten sollten.
Zuletzt geändert von Freedom am Donnerstag 6. August 2020, 22:21, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Glaubt ihr an Naturrecht?

Beitrag von Muirne »

Naturrecht macht ja gerade aus, dass man es nicht diskutiert wie die gender paygap, sondern dass diese fundamentalen Rechte einer Diskussion entzogen sind, weil sie unmittelbar einleuchten. Es diskutieren zu wollen ist dann eher dein Ansatz, weil du nicht daran "glaubst".
»Natürlich ist das herablassend. Torquemada ist mir gegenüber herablassend, ich bin esprit gegenüber herablassend. So ist die Nahrungskette in diesem Forum nunmal.« - Swann
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Re: Glaubt ihr an Naturrecht?

Beitrag von surcam »

Auch Sklaverei lässt sich wunderbar mit dem Naturrecht übereinbringen. Dabei muss man dann aber die Gleichheit der Menschen über Bord werfen. Jedenfalls die heutigen Verständnisses. Sklaven wurden (werden) wie Sachen behandelt. Und die Regeln zum Eigentum sind wohl im überwiegenden Teil ähnlich: Wer im Eigentum eines Einzelnen oder der Gemeinschaft stehende Gegenstände zerstört, beschädigt, beiseite schafft o.a., wird bestraft.
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