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Re: Ukraine

Verfasst: Dienstag 24. Mai 2022, 12:22
von Herr Schraeg
OJ1988 hat geschrieben: Dienstag 24. Mai 2022, 11:38 Kein Rhetoriklehrbuch wird mich davon überzeugen, dass die Grundannahme, das Argument einer sachkundigen Person sei im Zweifel gewichtiger als das einer sachunkundigen Person, Unfug ist.
was den Sachkundigen aber nicht davon entbindet, zu erläutern, warum sein Standpunkt besser und richtiger als die Argumentation des Unkundigen ist, anstatt sich auf "Ich habe Recht, weil ich davon mehr verstehe" zu beschränken.

Re: Ukraine

Verfasst: Dienstag 24. Mai 2022, 12:31
von Iriss
OJ1988 hat geschrieben: Dienstag 24. Mai 2022, 11:38 Kein Rhetoriklehrbuch wird mich davon überzeugen, dass die Grundannahme, das Argument einer sachkundigen Person sei im Zweifel gewichtiger als das einer sachunkundigen Person, Unfug ist.
..sollte es aber—. Im Zweifel!

Re: Ukraine

Verfasst: Dienstag 24. Mai 2022, 12:37
von Theopa
OJ1988 hat geschrieben: Dienstag 24. Mai 2022, 11:38 Kein Rhetoriklehrbuch wird mich davon überzeugen, dass die Grundannahme, das Argument einer sachkundigen Person sei im Zweifel gewichtiger als das einer sachunkundigen Person, Unfug ist.
Dafür musst du aber einige Punkte voraussetzen, was bei öffentlichen Diskussionen oftmals nicht funktionieren wird:

a) Du musst die konkrete Kompetenz für exakt diese Aussage korrekt bewertet haben. Wie schwer das Laien fällt dürfte klar sein. Selbst im juristischen Bereich als unserem Fachgebiet muss man erst einmal recherchieren um einordnen zu können, ob die Aussage des in den Medien zitierten berühmten Strafrechtsprofessors tatsächlich von einem anerkannten Experten stammt, oder ob hier mal wieder jemand der seit 20 Jahren zum Insolvenzstrafrecht forscht und seit dem Ref in keinem Gerichtssaal mehr war gefragt wurde, was seine Meinung zur praktischen Umsetzung der Strafrahmen in Urteilen bei Sexualdelikten ist.

b) Die Person muss eine in der Disziplin vertretbare bzw. "fachrichtige" Aussage getroffen haben. Du musst also ausschließen, dass es sich nur um eine unbewiesene Hypothese, eine exotische Mindermeinung oder gar um bereits widerlegten Blödsinn handelt. Auch hierfür muss man wieder das Argument selbst prüfen, völlig unabhängig von der Person des Äußernden.

c) Die Aussage muss singulär ausschließlich der Einzeldisziplin zuzuordnen sein. Wenn ein Geologe sagt, dass der Untergrund aus stabilem Sandstein besteht ist das wohl der Fall. Wenn er dagegen weiter ausführt, dass man deshalb dort einen Staudamm bauen sollte, sollte man sich fragen, ob da nicht noch irgendwo ein Meteorologe/Hydrologe ("Kann man machen, da regnet es aber nie und der Fluss ist 8 Monate im Jahr ausgetrocknet"), ein Seismologe ("Kann man machen, so 5-10 Jahre wird es statistisch schon dauern bis er bei einem der häufigen Erdbeben einstürzt") oder ein Ökonom ("Die nächste größere Stadt ist ca. 500 Kilometer entfernt und die Stromleitungen müssten unter Wasser verlegt werden") auch noch etwas dazu zu sagen hätte.

Gerade letzteres ist bei den Kern-"Expertenthemen" der letzten Jahre das Problem.


Am Ende bleibt es dabei: Nur weil ein Experte in seinem Fachgebiet statistisch mit weit höherer Wahrscheinlichkeit richtige Antworten geben wird, muss man dennoch immer die Argumente inhaltlich prüfen. Wenn beide Seiten gleichwertige und objektiv korrekte Argumente liefern, gilt nicht automatisch "Experte sticht". Der Experte kann das Gegenargument eventuell widerlegen, dann hat er die Diskussion aber wiederum nicht kraft Autorität sondern kraft inhaltlicher Überlegenheit der Argumentation gewonnen.

Oder anders gesagt: Auch wenn Familienrechtler statistisch teilweise hanebüchenen Blödsinn in Arzthaftungssachen schreiben prüfe ich dennoch jedes Argument in deren Schriftsätzen sachlich und inhaltlich, da eben immer etwas dran sein kann.

Re: Ukraine

Verfasst: Dienstag 24. Mai 2022, 18:34
von Tibor
Nun, wir waren aber an dem schlichten Punkt: Wer eine Behörde (Ober) von innen kennt, der erkennt, dass die Forderung nach einer fachlich versierten Behördenleitung nur Schaumschlägerei ist. Hier geht es nur um die Kenntnis der Abläufe in der Praxis, die Gewohnheiten, Bräuche etc, die man kaum/nicht aus Gesetzen/GO ablesen kann. Die potentielle Argumentation dreht sich nicht um Spezialistenwissen, sondern um Erfahrungen. Der Unerfahrene mag ggf richtig liegen in seiner Behauptung, ist aber primär begründungsbedürftig.

Zur Sache: nicht ohne Grund gibt es in Landesministerien oft die Bezeichnung „Amtschef“ für den verbeamteten StS. Hier wird noch viel deutlicher, dass die Führung des Hauses was qualitativ anderes ist als die Setzung politischer Akzente und die Verbindung zwischen Parlament-Regierung-Ministerium zu managen.

Re: Ukraine

Verfasst: Dienstag 24. Mai 2022, 19:00
von Iriss
..zurück zum eigentlichen Thema- Ukrainekrieg.

Re: Ukraine

Verfasst: Dienstag 24. Mai 2022, 20:02
von Joshua
In meiner Lokalzeitung war kürzlich ein Leitartikel mit dem Tenor, Putin verfolge gar kein rational begründetes Kriegsziel i.e.S. Dafür seien die Truppenbewegungen viel zu erratisch. Es gehe ihm vielmehr darum, den Krieg sehr lange am Köcheln zu halten, immer mal wieder zu eskalieren usw., letztlich mit dem alleinien Ziel, den Westen insgesamt zu "terrorisieren", weltweite Hungerzustände hervorzurufen, dem Westen mehr und mehr Flüchtlinge zu "organisieren", Preise hochzutreiben, Nukleardrohungen auszusprechen, kurz: "uns" in einem jahrelangen Kriegszustand zu halten und die Bevölkerungen in den westlichen Staaten zu zermürben.

Man könnte das rasch verwerfen, unter Verweis auf das Argument, der Krieg schade Russland am meisten.

Aber ist das wirklich ein gutes Gegenargument? Immerhin sagt man Diktaturen mit gutem Grund nach, sie könnten Kriegszustände besser aushalten, da die Bevölkerungen einerseits "leidensfähiger" und andererseits eben leichter manipulierbar und steuerbar seien als in Demokratien. In der NYT gab es letzte Woche ein überraschendes Editorial: Wie lange spielt die US-Bevölkerung noch mit dabei, Milliarden zu überweisen für einen Krieg in Europa? Bisher sollen die USA 50 Mrd., dann noch mal weitere 40 Mrd. investiert haben, und das bei all den Problemen der sozialen Spaltung im eigenen Land.

Wie sähe das in 1, 2 Jahren aus? Kaum vorstellbar, dass die breite Koalition des Westens dann nicht Risse bekommen haben wird.

Was meint Ihr? Ist eine solche These plausibel?

Re: Ukraine

Verfasst: Dienstag 24. Mai 2022, 20:11
von Joshua
@Theopa

Zu oben:

Deine Argumentationslinien a, b und c treffen allesamt zu, am gewichtigsten ist Linie c: Sobald wir es mir komplexen Systemen zu tun, wie meist, schadet die Betriebsblindheit bzw. auch analytische Engführung der Einzeldisziplin oftmals.

Die praktisch jahrtausendalte Ablehnung des arg. ad hominem erweist sich als modern und weise.

Re: Ukraine

Verfasst: Mittwoch 1. Juni 2022, 09:07
von Iriss
..Spiegel-Spitzengespräch zu Waffenlieferungen im Ukrainekrieg.
Die Standpunkte wurden sehr deutlich, die sachliche und abwägende Argumentation der Linke-Vorsitzenden und die Phrasen unserer sog. verteidigungsexpertin.
Aber bekannt ist sie jetzt, hat richtig Karriere gemacht.

Re: Ukraine

Verfasst: Mittwoch 1. Juni 2022, 19:40
von Joshua
Hier eine sehr lesenswerte Meinung von J. Berger zum Thema "Spritpreise/soziale Verwerfungen/Sanktionen":
Trotz Maßnahmenpaket und Tankrabatt bewegen sich die Spritpreise an deutschen Tankstellen auf einem historisch hohen Niveau. Die massiven Preissteigerungen sind direkte Folgen der von den westlichen Staaten verhängten Sanktionen gegen Russland. Wenn das jüngst verabschiedete Ölembargo der EU das Angebot an Rohöl noch weiter einschränkt und die auf drei Monate befristete „Anpassung“ der Energiesteuer ausläuft, wird das böse Erwachen folgen. Vor allem einkommensschwache Bürger, die auf ihr Auto angewiesen sind, und die Bewohner ländlicher Regionen werden – unabhängig von ihrem Einkommen – herbe Einschnitte verkraften müssen. Das ist der Preis, den wir dafür bezahlen müssen, dass unsere Politik sich bei den Sanktionen vollkommen verrannt hat und offensichtlich die Interessen der USA wichtiger findet als das Wohl ihres eigenen Landes.
Weiterlesen hier: https://www.nachdenkseiten.de/?p=84416

Re: Ukraine

Verfasst: Sonntag 19. Juni 2022, 16:49
von Joshua
Selenskyj besucht Front in Südukraine »Alles, was uns gehört, holen wir zurück«
Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich einen Eindruck von der Verwüstung und der Lage in der Südukraine verschafft. Er bedankte er sich für den Einsatz seiner Landsleute und sendete eine Botschaft aus dem Zug.
https://www.spiegel.de/ausland/ukraine- ... 1b214f3684, Hervorh. n. i. O.

Das ist in Ansehung des Kriegsverlaufs - leider (!!!) - vollkommen illusorisch. Die Ukraine verliert diesen Krieg gerade, ganz der schon anfänglich artikulierten Einstellung der Mehrheit der Militärexperten entsprechend, auf ganz breiter Front. Russland verwirklicht ein strategisches Schlüsselziel nach dem anderen.

Re: Ukraine

Verfasst: Montag 20. Juni 2022, 14:29
von Strich
Russland ist der Ukraine 10 fach hinsichtlich der vorhandenen Artillerie überlegen, hab ich gehört.

Re: Ukraine

Verfasst: Montag 20. Juni 2022, 21:06
von Ara
Joshua hat geschrieben: Sonntag 19. Juni 2022, 16:49 Das ist in Ansehung des Kriegsverlaufs - leider (!!!) - vollkommen illusorisch. Die Ukraine verliert diesen Krieg gerade, ganz der schon anfänglich artikulierten Einstellung der Mehrheit der Militärexperten entsprechend, auf ganz breiter Front. Russland verwirklicht ein strategisches Schlüsselziel nach dem anderen.
Strich hat geschrieben: Montag 20. Juni 2022, 14:29 Russland ist der Ukraine 10 fach hinsichtlich der vorhandenen Artillerie überlegen, hab ich gehört.
Die Artillerie gewinnt aber keinen Krieg.

Westliche Armeen kalkulieren für Gebietsgewinn mindestens 3:1 Überlegenheit von Panzern. Um das Gebiet dann zu halten brauchst du entsprechende Infanterie. Für Straßenkämpfe rechnet die Bundeswehr mit 8:1 oder gar 10:1.

Über beides verfügen weder die Russen noch die Ukrainer. Man sieht es ja Eindrucksvoll was das Hauptproblem der Russen ist: Sie haben nicht ausreichend Infanterie um Gebiete zu halten.

Das ist übrigens das Absurdeste am gesamten Kriegsverlauf. Die Russen versuchen wirklich das, was in der modernen Kriegsführung quasi ausgeschlossen wurde: Klassische Gebietseinnahme.

Da bringen moderne Waffen wenig bis gar nichts... Die können ganze Städte in Schutt und Asche legen, aber Gebiet einnehmen und halten ist so nicht möglich. Die Artillerie und Raketen können beim Halten von Gebieten gar nicht mehr helfen. Die Panzer müssen nach der Einnahme regelmäßig zurück. Man braucht daher nun Panzer um die Gebiete einzunehmen und anschließend klassische Infanterie, um das Gebiet dann dauerhaft zu halten.

Aktuell verlieren die Russen aber ja immer wieder die Gebiete sobald die ihre Infanterie aus den Gebieten abziehen. Ich finde es ist aktuell völlig utopisch, dass da in naher Zukunft irgendwie nennenswerten Gebietsgewinn machen wird. Selbst wenn der Russe irgendwann wieder vor Kiew stehen sollte, werden sie halt die Nachschublinie nicht sichern können, weil sie nicht ausreichend Infanterie haben.

Re: Ukraine

Verfasst: Freitag 24. Juni 2022, 12:24
von Strich
Die Ukraine zieht sich aus Sjewjerodonezk zurück. Läuft nicht so gut.

Re: Ukraine

Verfasst: Freitag 24. Juni 2022, 21:40
von Joshua
Ara hat geschrieben: Montag 20. Juni 2022, 21:06
Joshua hat geschrieben: Sonntag 19. Juni 2022, 16:49 Das ist in Ansehung des Kriegsverlaufs - leider (!!!) - vollkommen illusorisch. Die Ukraine verliert diesen Krieg gerade, ganz der schon anfänglich artikulierten Einstellung der Mehrheit der Militärexperten entsprechend, auf ganz breiter Front. Russland verwirklicht ein strategisches Schlüsselziel nach dem anderen.
Strich hat geschrieben: Montag 20. Juni 2022, 14:29 Russland ist der Ukraine 10 fach hinsichtlich der vorhandenen Artillerie überlegen, hab ich gehört.
Die Artillerie gewinnt aber keinen Krieg.

Westliche Armeen kalkulieren für Gebietsgewinn mindestens 3:1 Überlegenheit von Panzern. Um das Gebiet dann zu halten brauchst du entsprechende Infanterie. Für Straßenkämpfe rechnet die Bundeswehr mit 8:1 oder gar 10:1.

Über beides verfügen weder die Russen noch die Ukrainer. Man sieht es ja Eindrucksvoll was das Hauptproblem der Russen ist: Sie haben nicht ausreichend Infanterie um Gebiete zu halten.

Das ist übrigens das Absurdeste am gesamten Kriegsverlauf. Die Russen versuchen wirklich das, was in der modernen Kriegsführung quasi ausgeschlossen wurde: Klassische Gebietseinnahme.

Da bringen moderne Waffen wenig bis gar nichts... Die können ganze Städte in Schutt und Asche legen, aber Gebiet einnehmen und halten ist so nicht möglich. Die Artillerie und Raketen können beim Halten von Gebieten gar nicht mehr helfen. Die Panzer müssen nach der Einnahme regelmäßig zurück. Man braucht daher nun Panzer um die Gebiete einzunehmen und anschließend klassische Infanterie, um das Gebiet dann dauerhaft zu halten.

Aktuell verlieren die Russen aber ja immer wieder die Gebiete sobald die ihre Infanterie aus den Gebieten abziehen. Ich finde es ist aktuell völlig utopisch, dass da in naher Zukunft irgendwie nennenswerten Gebietsgewinn machen wird. Selbst wenn der Russe irgendwann wieder vor Kiew stehen sollte, werden sie halt die Nachschublinie nicht sichern können, weil sie nicht ausreichend Infanterie haben.
Danke, das sind wichtige Einsichten.

Gewisse Einwände habe ich aber doch:

Wenn du meinst, die klassische Gebietseinnahme sei ein mehr oder minder aussichtsloses Unterfangen, so möchte ich sagen:
a) Genau das ist es in der Ostukraine wohl eher nicht, zumal dort in der Bevölkerung auch noch relativ viel Russlandnähe herrscht.
b) Man darf auch nicht unterschätzen, wie sehr die russische Bereitschaft zu Terror und extremster Gewalt in besetzten Gebieten Widerstand auflösen kann.

Re: Ukraine

Verfasst: Samstag 25. Juni 2022, 16:53
von Ara
a) Aber auch in der Ostukraine ist es ja nicht so, dass die Russen tatsächlich die faktische Kontrolle haben. Das mag für einzelne größere Städte gelten, aber die Gebiete dazwischen sind ja lediglich "frei von ukrainischen Kämpfern", aber nicht besetzt im klassischen Sinne. Wenn man das zum Beispiel mit dem zweiten Weltkrieg vergleicht, da waren die eingenommenen Gebiete ja tatsächlich nazifiziert.

b) Ich glaube das wird nicht funktionieren. Gerade Terror wird nen harten Kern an Widerstandskämpfern befeuern und die werden ausreichen, um den Russen das Leben da schwer zu machen.

Ich denke Russland wird irgendein anderes Kriegsziel irgendwann ausrufen müssen, als tatsächlich die Ukraine, und seien es auch nur die östlichen Gebiete, sich einzuverleiben. Aber wir werden sehen.