Art. 100 GG und das überstimmte Kammermitglied

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Ara
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Art. 100 GG und das überstimmte Kammermitglied

Beitrag von Ara »

Moin,

in der strafrechtlichen Praxis gewinnt der Art. 100 GG ja aktuell an Bedeutung und die Verfahren in denen Richter die Verfahren aussetzen und § 184b StGB vorlegen wollen häufen sich. Das heißt auch als Strafverteidiger beschäftigt man sich mit Art. 100 GG nach langer Zeit mal wieder.

Interessant fand ich, dass Schöffengerichte und Kollegialgerichte nur gemeinsam eine Vorlage machen können und zwar mit mindestens einfacher Mehrheit. Das heißt der einzelne Richter eines Spruchkörpers kann keine Vorlage nach Art. 100 GG erzwingen, sondern muss eine Entscheidung des Gerichts herbeiführen.

Nun stellt sich mir natürlich die Frage, was macht denn ein Kammermitglied in der Praxis, wenn er tatsächlich eine Norm für verfassungswidrig hält. Wir nehmen mal an wir haben n § 184b StGB-Verfahren vor ner großen Strafkammer mit 3 Berufsrichtern und zwei Schöffen. Ein Berufsrichter hält die Norm für verfassungswidrig, ein Schöffe schließt sich diesem an. Die zwei anderen Berufsrichter + der andere Schöffe halten die Norm für verfassungsgemäß.

Sie stimmen also ab und die Vorlage nach Art. 100 GG wird mit 3:2 abgelehnt. Es wird verhandelt und der Angeklagte ist vollgeständig. Das heißt § 184b StGB ist unzweifelhaft einschlägig. Es kommt sodann zur Urteilsberatung und zur Abstimmung.

Wie verhalten sich die beiden Richter, die die Norm für verfassungswidrig halten? Der einzelne Richter ist dem Recht und Gesetz unterworfen. Nach seinem Rechtsverständnis ist die Norm verfassungswidrig und eine Verurteilung würde gegen die Verfassung verstoßen. Er darf/kann nicht für eine Verurteilung stimmen. Mit 2 Gegenstimmen fehlt aber die 2/3-Mehrheit für die Verurteilung und der Angeklagte wird freigesprochen. Das Ergebnis macht aber ja auch Bauchschmerzen, weil der Richter ja grundsätzlich auch an das Gesetz gebunden ist und auch eine Norm die er für verfassungswidrig hält anwenden muss, und keine eigene "Nichtanwendungskompetenz" hat.

Wie kommt ein Richter hier aus seinem Dilemma? Er kann sich ja auch nicht "enthalten", weil die Stimme gegen den Schuldspruch ja automatisch eine für den Freispruch ist.

BG
Ara
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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thh
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Re: Art. 100 GG und das überstimmte Kammermitglied

Beitrag von thh »

Ara hat geschrieben: Dienstag 31. Januar 2023, 20:13Wie verhalten sich die beiden Richter, die die Norm für verfassungswidrig halten? Der einzelne Richter ist dem Recht und Gesetz unterworfen. Nach seinem Rechtsverständnis ist die Norm verfassungswidrig und eine Verurteilung würde gegen die Verfassung verstoßen. Er darf/kann nicht für eine Verurteilung stimmen.
Dieser Schluss erschließt sich mir nicht. Solange die Verfassungswidrigkeit der Norm nicht festgestellt ist, ist sie anzuwenden (modulo Aussetzung wegen des Vorlageverfahrens).

Ein anderes Ergebnis wäre auch skurril. Nehmen wir an, es wird nach Art. 100 GG vorgelegt und die Vorlage ist unzulässig. Nach dem Rechtsverständnis des Richters bleibt die Norm verfassungswidrig, er dürfte also Deiner Ansicht nach weiterhin nicht für eine Verurteilung stimmen. Und selbst wenn nach Art. 100 GG vorgelegt wird und das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit der Norm bestätigt, ändert das ja nichts am Rechtsverständnis des Richters, der die Norm weiter für verfassungswidrig hält; auch das BVerfG entscheidet bekanntlich nicht richtiger, sondern nur endgültiger.
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Ara
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Re: Art. 100 GG und das überstimmte Kammermitglied

Beitrag von Ara »

Zumindest für den Fall, dass das BVerfG die Norm für verfassungsmäßig erklärt, hab ich aber zumindest die Bindungswirkung durch die Entscheidung des Verfassungsorgans. Da kann der Richter sich ja zurückziehen und sagen, es ist verfassungsgemäß (da es das Verfassungsorgan, welches verfassungsmäßig das zu entscheiden hat, dies so sieht), aber ich lehne diesen konkreten Inhalt der Verfassung persönlich ab. Hier sehe ich dann nicht das Problem, dass der Richter das Recht anwendet, da er genau so handelt wie es die Verfassung vorsieht, auch wenn er es in persona anders sieht.

Aber ich verstehe deine Antwort dann so, dass du als Richter dann für die Verurteilung stimmen würdest, wenn der Straftatbestand einfachgesetzlich erfüllt ist?
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Re: Art. 100 GG und das überstimmte Kammermitglied

Beitrag von thh »

Ara hat geschrieben: Dienstag 31. Januar 2023, 22:40Aber ich verstehe deine Antwort dann so, dass du als Richter dann für die Verurteilung stimmen würdest, wenn der Straftatbestand einfachgesetzlich erfüllt ist?
Sicher, was sonst?
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Strich
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Re: Art. 100 GG und das überstimmte Kammermitglied

Beitrag von Strich »

Ara hat geschrieben: Dienstag 31. Januar 2023, 22:40 Aber ich verstehe deine Antwort dann so, dass du als Richter dann für die Verurteilung stimmen würdest, wenn der Straftatbestand einfachgesetzlich erfüllt ist?
Was anderes wird dem Richter nicht übrig bleiben. Das Problem muss man gar nicht an Art 100 GG aufhängen:

Die Kammer (R1, R2, V, S1, S2) berät, ob eine beliebige Straftat verwirklcht wurde.

R1 ist der Ansicht es fehle schon am objektiven TB, während der Rest der Meinung ist, dieser sei erwiesen. Hinsichtlich des subjektiven TB ist R1 zwar der Meinung, dieser liege vor, wenn man unterstellt der objektive TB sei gegeben, R2 ist aber wiederum der Ansicht, dieser liege nicht vor. Nach Abstimmung kommt das Gericht dann zum Ergebnis, dass dieser eben vorliegt. Hierzu zwingt § 195 GVG R1. Wenn nun über die Rechtswidrigkeit abgestimmt wird und V der Ansicht ist, die Tat sei gerechtfertigt gewesen, während der Rest der Ansicht ist, die Tat sei rechtswidrig, wird auch dieser überstimmt. Kommt nun noch die Frage der Schuld auf den Tisch und S1 ist der Ansicht, der Angeklagte habe schuldlos gehandelt, während der Rest der Ansicht ist, es sei - den Rest unterstellt - schuldhaft gewesen, kommt es zur Überstimmung des S1.
Am Ende wird der Angeklagte wegen der Tat verurteilt.
Die Frage, ob eine Norm verfassungskonform ist, ist nichts anderes als so ein Prüfungspunkt. R1 müsste die Verfassungskonformität genau so unterstellen, wie den objektiven TB bei der Abstimmung über den subjektiven TB.

Das Ergebnis mag insgesamt komisch anmuten, da lediglich 1 Richter (S2) wenn er als Einzelrichter entschieden hätte, zu einer Verurteilung gekommen wäre. Alle anderen hätten als Einzelrichter den Angeklagten freigesprochen. Die absolute und 2/3 Mehrheit der Kammer ist also eigentlich für Freispruch.

In den USA macht man das glaube ich auch so: Jeder Richter macht sein eigenes Urteil und am Ende kommt es auf die Mehrheit der Tenöre an: In unserem Fall würde der Angeklagte in den USA freigesprochen werden, weil 4 der 5 Urteile auf Freispruch lauten.
Stehe zu deinen Überzeugungen soweit und solange Logik oder Erfahrung dich nicht widerlegen. Denk daran: Wenn der Kaiser nackt aussieht ist der Kaiser auch nackt ... .
- Daria -

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Seit 31.05.2022 Lord Strich
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