"Der sprachlose Rechtsstaat"

Für alle Fragen, die sich speziell für Richter, Staatsanwälte oder Verwaltungsbeamte ergeben, z.B. Bewerbung, Arbeitszeit, Laufbahnentwicklung, Wechsel des Bundeslandes oder der Gerichtsbarkeit usw.

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Urs Blank
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"Der sprachlose Rechtsstaat"

Beitrag von Urs Blank »

Bedenkenswerter Kommentar von Volker Boehme-Neßler zum "sprachlosen Rechtsstaat":

https://www.welt.de/debatte/kommentare/ ... inden.html

Als Negativbeispiel dient ihm insbesondere die Pressepolitik des Landgerichts Landau, das im Fall "Kandel" meinte, die Nicht-Öffentlichkeit des Jugendstrafverfahrens verbiete es (auch), die Medien über Einzelheiten der Urteilsbegründung zu informieren.

M. E. zeitigt diese Auffassung des LG Landau nicht allein die von Boehme-Neßler aufgezeigten negativen Folgen, vor allem ist sie juristisch falsch:

Denn jedenfalls nach der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts ist das Persönlichkeitsrecht von Jugendlichen nicht per se höher zu gewichten als das Informationsinteresse der Öffentlichkeit (BVerfG, Beschluss vom 25.01.2012, 1 BvR 2499/09 zu zivilrechtlichen Unterlassungsansprüchen gegen Medien). Das LG Landau hätte daher zwischen den Rechtsgütern abwägen müssen - und m. E. im Ergebnis wohl nähere Auskünfte geben müssen, bedenkt man die außerordentliche Bedeutung des Falls "Kandel".
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famulus
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Re: "Der sprachlose Rechtsstaat"

Beitrag von famulus »

Dass dem Fall nur aus Gründen politischer Instrumentalisierung eine vermeintliche Bedeutung bekommt, wird bei der Abwägung wohl auch eine Rolle zu spielen haben.
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Ara
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Re: "Der sprachlose Rechtsstaat"

Beitrag von Ara »

Wenn in den Medien, wie hier im Artikel, von „Fehlurteil“ gesprochen wird, weil jemand 8 1/2 Jahre statt der Höchststrafe von 10 Jahren bekommen hat, dann hilft das kaum, um den Rechtsstaat der Bevölkerung näher zu bringen.

Ansonsten neigt der gemeine Wutbürger auch dazu nicht mehr aufnahmefähig zu sein für Argumente warum man Jugendliche nicht hängt. Ich glaube es war schon immer so, dass die außenstehense Bevölkerung ohne Detailkenntnis „Hängt ihn höher“ rief. Würde man die Leute selbst zu Schöffen machen, dann würden sie es sicherlich viel differenzierter sehen. Ob man das Ziel aber auch durch ne umfassende Berichterstattung erreicht, bezweifle ich.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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Re: "Der sprachlose Rechtsstaat"

Beitrag von thh »

Urs Blank hat geschrieben: Donnerstag 13. September 2018, 23:28Als Negativbeispiel dient ihm insbesondere die Pressepolitik des Landgerichts Landau, das im Fall "Kandel" meinte, die Nicht-Öffentlichkeit des Jugendstrafverfahrens verbiete es (auch), die Medien über Einzelheiten der Urteilsbegründung zu informieren.
Als ob das einen relevanten Unterschied machen würde. "Die Medien" - gerade die dpa - sind nicht selten vom Abschreiben oder Verkürzen einer Pressemeldung überfordert, und "die Öffentlichkeit" - insbesondere die sich lautstark über das Urteil verbreitende solche - will keine Erklärungen oder Einzelheiten, sondern lebenslang oder Todesstrafe.
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Re: "Der sprachlose Rechtsstaat"

Beitrag von OJ1988 »

Ara hat geschrieben: Freitag 14. September 2018, 07:36 Wenn in den Medien, wie hier im Artikel, von „Fehlurteil“ gesprochen wird, weil jemand 8 1/2 Jahre statt der Höchststrafe von 10 Jahren bekommen hat, dann hilft das kaum, um den Rechtsstaat der Bevölkerung näher zu bringen.

Ansonsten neigt der gemeine Wutbürger auch dazu nicht mehr aufnahmefähig zu sein für Argumente warum man Jugendliche nicht hängt. Ich glaube es war schon immer so, dass die außenstehense Bevölkerung ohne Detailkenntnis „Hängt ihn höher“ rief. Würde man die Leute selbst zu Schöffen machen, dann würden sie es sicherlich viel differenzierter sehen. Ob man das Ziel aber auch durch ne umfassende Berichterstattung erreicht, bezweifle ich.
Die Perspektive von Nicht-Juristen ist da eine andere. Als Jurist denkt man sich bei 8 1/2 Jahren Jugendstrafe natürlich, dass das ganz schön saftig ist (da 10 Jahre Höchstgrenze, generelle Zurückhaltung mit langen Jugendstrafen). Als Nicht-Jurist versteht man oft weder die Einpflegung von Heranwachsenden ins Jugendstrafrecht noch solche Höchstgrenzen, gerade bei vorsätzlichen Tötungsdelikten. "Fehlurteil" ist hier m.E. eher rechtspolitisch und nicht rechtsdogmatisch zu verstehen.
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Tibor
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Re: "Der sprachlose Rechtsstaat"

Beitrag von Tibor »

Also als Nichtstrafrechtler habe ich den Fall nur via SPON & Co verfolgt. Ich fand 8,5 von 10 als relativ hohen Ausspruch.
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Re: "Der sprachlose Rechtsstaat"

Beitrag von sai »

Ich finde eine solche Schelte am Beispiel einer diskutablen Pressepolitik doch ein bisschen Unterkomplex. Das Landgericht Landau mag vieles sein, aber sicherlich nicht "Der Rechtsstaat". Mir geht auch langsam die journalistische Doppelzüngigkeit in dem Bereich ein wenig auf die Nerven. Medienübergreifend regen sich Kommentator immer wieder über die (überzogene) Kritik mancher Politiker über die Gericht, insbesondere am BVerfG auf, um dann selbst irgendwelche halbgaren Kommentare zu veröffentlichen.

Und konkret auf die Welt bezogen: die Zeitung hat heute berichtet, dass in Sachen Hambacher Forst derzeit ein Beschwerdeverfahren beim Oberlandesgericht Münster laufe. Das ist ein handwerklicher Fehler unterster Kategorie, weil durch fünf Sekunden Google-Recherche vermeidbar. Wer auf dem Niveau berichtet, sollte sich als Medium mit Kritik ein wenig zurückhalten.
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Re: "Der sprachlose Rechtsstaat"

Beitrag von OJ1988 »

Tibor hat geschrieben: Freitag 14. September 2018, 09:05 Also als Nichtstrafrechtler habe ich den Fall nur via SPON & Co verfolgt. Ich fand 8,5 von 10 als relativ hohen Ausspruch.
Ich sprach von Nicht-Juristen. Die wollen in der Regel, dass Mörder und Totschläger für lange Zeit weggesperrt werden, auch wenn sie "erst" 20 sind. Wäre es anders, würde die BILD (die für so etwas ein gutes Gespür hat) auch nicht irgendeinen (rechtlich nicht haltbaren) Quatsch von wegen "Fehlurteil, viel zu lasch" bei 8,5 Jahren Jugendstrafe in die Welt posaunen.
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Tibor
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Re: "Der sprachlose Rechtsstaat"

Beitrag von Tibor »

Naja, man muss schon unterscheiden zwischen Leuten, die meinen die Gesetze sind zu lasch (maximal 10 Jahre ist der Hohn) oder zwischen Leuten, die meinen die ausgesprochene Strafe im gesetzlichen Rahmen sei zu lasch (nur 85% des Rahmens ist der Hohn). Je nach Meldung in der Presse gibt es diese und jene Kritik, aber selbst die normale BLÖD-Leser dürften erkennen, dass ein Richter keine Strafe aussprechen kann, die nach dem Gesetz nicht mehr zulässig ist. Da musst du schon auf sehr einfältige Bürger treffen, die sagen: "8,5 von 10 Jahren? In dem Fall hätte der Richter auch mal 20 Jahre sagen können, egal was im Strafgesetz vorgesehen ist!".
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famulus
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Re: "Der sprachlose Rechtsstaat"

Beitrag von famulus »

OJ1988 hat geschrieben: Freitag 14. September 2018, 15:59 Ich sprach von Nicht-Juristen. Die wollen in der Regel, dass Mörder und Totschläger für lange Zeit weggesperrt werden, auch wenn sie "erst" 20 sind.
Schließlich sind 8,5 Jahre nur für Juristen eine "lange Zeit".
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Re: "Der sprachlose Rechtsstaat"

Beitrag von OJ1988 »

famulus hat geschrieben: Freitag 14. September 2018, 18:14
OJ1988 hat geschrieben: Freitag 14. September 2018, 15:59 Ich sprach von Nicht-Juristen. Die wollen in der Regel, dass Mörder und Totschläger für lange Zeit weggesperrt werden, auch wenn sie "erst" 20 sind.
Schließlich sind 8,5 Jahre nur für Juristen eine "lange Zeit".
Seufz. Ich meinte den im Alltag doch recht verbreiteten Trugschluss "jemanden töten = lebenslang".
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Re: "Der sprachlose Rechtsstaat"

Beitrag von Tobias__21 »

Wobei lebenslang ja nur 15 Jahre sind und Mord geplant sein muss, der Totschlag aber immer spontan und aus Affekt geschieht. So ein studierter BWLer neulich zu mir, dem ich eine gute Allgemeinbildung unterstelle :)

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Re: "Der sprachlose Rechtsstaat"

Beitrag von thh »

sai hat geschrieben: Freitag 14. September 2018, 10:31Und konkret auf die Welt bezogen: die Zeitung hat heute berichtet, dass in Sachen Hambacher Forst derzeit ein Beschwerdeverfahren beim Oberlandesgericht Münster laufe. Das ist ein handwerklicher Fehler unterster Kategorie, weil durch fünf Sekunden Google-Recherche vermeidbar. Wer auf dem Niveau berichtet, sollte sich als Medium mit Kritik ein wenig zurückhalten.
Das ist der normale journalistische Standard. Berufung oder Revision, Oberlandesgericht oder Oberverwaltungsgericht, Vergehen oder Verbrechen, aber auch Rettungswagen oder Sanka - alles eins. Wichtiger als faktische Korrektheit ist ein apartes Variieren der Begriffe, damit man sich nicht so oft wiederholt.
OJ1988 hat geschrieben: Freitag 14. September 2018, 15:59Ich sprach von Nicht-Juristen. Die wollen in der Regel, dass Mörder und Totschläger für lange Zeit weggesperrt werden, auch wenn sie "erst" 20 sind.
Und auch, dass jeder Straftäter direkt in Untersuchungshaft kommt, ja das überhaupt richtig durchgegriffen wird.

Allerdings nicht, wenn sie das plötzlich selbst betrifft, und sei es auch nur im Owi-Bereich. Dann ist alles sofort unverhältnismäßig ...
famulus hat geschrieben: Freitag 14. September 2018, 18:14Schließlich sind 8,5 Jahre nur für Juristen eine "lange Zeit".
8,5 Jahre sind auch für den Durchschnittsbürger eine lange Zeit; insbesondere, wenn er diese Zeit in Haft verbringen muss, aber auch umgangssprachlich. Beziehungen, die achteinhalb Jahre halten, halten "lange".
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Re:

Beitrag von thh »

Tobias__21 hat geschrieben: Freitag 14. September 2018, 19:13Wobei lebenslang ja nur 15 Jahre sind
Es ist ja alles noch viel schlimmer: 15 Jahre sind nur 10 Jahre, 10 Jahre nur 6 Jahre und 8 Monate ...
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Urs Blank
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Re: "Der sprachlose Rechtsstaat"

Beitrag von Urs Blank »

famulus hat geschrieben: Freitag 14. September 2018, 05:59 Dass dem Fall nur aus Gründen politischer Instrumentalisierung eine vermeintliche Bedeutung bekommt, wird bei der Abwägung wohl auch eine Rolle zu spielen haben.
Eine Abwägung hat ja gerade nicht stattgefunden. Der Gerichtssprecher hat einfach (sinngemäß) behauptet, das JGG verbiete es, Informationen über den Inhalt des Urteils zu geben. - Was die Abwägungsgründe angeht: Wird über den Gegenstand eines Verfahrens bundesweit politisch debattiert, dann spricht dies für ein erhebliches Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Ob ein Verfahren „zu Recht“ öffentliche Aufmerksamkeit genießt, hat wohl nicht die Justizverwaltung zu bestimmen.
Ara hat geschrieben: Freitag 14. September 2018, 07:36 Ansonsten neigt der gemeine Wutbürger auch dazu nicht mehr aufnahmefähig zu sein für Argumente warum man Jugendliche nicht hängt. Ich glaube es war schon immer so, dass die außenstehende Bevölkerung ohne Detailkenntnis „Hängt ihn höher“ rief.
Sicherlich, den pöbelnden Spinner wird man nicht von seiner Gedankenwelt abbringen. Entscheidend ist es für die Justiz m. E., den nicht unerheblichen Anteil der Vernünftigen in der Bevölkerung zu erreichen, die den Resonanzraum der Pöbler bilden.
sai hat geschrieben: Freitag 14. September 2018, 10:31 Und konkret auf die Welt bezogen: die Zeitung hat heute berichtet, dass in Sachen Hambacher Forst derzeit ein Beschwerdeverfahren beim Oberlandesgericht Münster laufe. Das ist ein handwerklicher Fehler unterster Kategorie, weil durch fünf Sekunden Google-Recherche vermeidbar. Wer auf dem Niveau berichtet, sollte sich als Medium mit Kritik ein wenig zurückhalten.
Ein ärgerlicher Fehler. Allerdings gilt nach meiner Erfahrung, dass fehlerhafte Berichterstattung nicht selten auf schlechte Kommunikation zurückgeht: Zum Beispiel weil wir als professionelle Verfahrensbeteiligte allzuoft in einem unverständlichen Kauderwelsch an den Betroffenen (und an den interessierten Zuhörern) vorbeireden. Und es die Justizpressestellen nicht unbedingt besser machen.
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