stilzchenrumpel hat geschrieben: ↑Montag 29. April 2019, 06:38Damit beschäftigt sich insb. die sog. Aussagepsychologie. Dazu kann man Fortbildungen machen.
Deren praktischer Wert ist freilich sehr überschaubar, weil problematische Zeugen in der Regel eben nicht frei von der Leber weg umfangreich berichten, sondern eher einsilbig sind; aus bloßen kurzen Antworten auf Fragen lässt sich aber wenig ableiten (und eben auch nicht, dass der Zeuge die Unwahrheit sagt - er kann auch von der Situation eingeschüchtert, unwillig oder eben einfach einsilbig sein). Es wird keineswegs besser, wenn ein Dolmetscher zwischengeschaltet ist.
stilzchenrumpel hat geschrieben: ↑Montag 29. April 2019, 06:38Ein paar Eckpfeiler:
Gerade im Strafrecht - in dem ja meist frühere Angaben vorliegen - von Bedeutung ist die Aussagekonstanz: passt das, was der Zeuge jetzt sagt, zu dem, was er in seiner polizeilichen Vernehmung gesagt hat? Dabei sollte man aber umgekehrt nicht sklavisch am Wortlaut kleben.
Zum einen sind (hier) zwar kriminalpolizeiliche Vernehmungen, die regelmäßig auf der Dienststelle und/oder per Tonaufzeichnung stattfinden, im Frage-Antwort-Schema nahe am Wortlaut protokolliert, so dass der Zeuge hochwahrscheinlich zumindest inhaltlich genau das gesagt hat, was protokolliert ist; die Vernehmungen der Schutzpolizei sind aber normalerweise nur kurze Blöcke fortlaufenden Textes, die das, was der Beamte aus der Vernehmung verstanden hat, wiedergeben, und zwar entweder aufgrund von handschriftlichen Aufzeichnungen in einem Notizbuch oder nach der Erinnerung, sobald er einmal Zeit hatte, sich Notizen zu machen. Dem Zeugen dann vorzuhalten, er habe damals aber ein anderes Wort benutzt oder eine bestimmte Behauptung aufgestellt, ist wenig sinnvoll.
Zum anderen liegen das Geschehen und die Vernehmungen in der Regel schon eine gewisse Zeit zurück. Es ist daher durchaus zu erwarten, dass der Zeuge sich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnert. Insofern ist es unproblematisch, wenn es im (für ihn damals!) weniger bedeutenden Geschehen Abweichungen gibt, mag dieses Geschehen auch für den Prozess von großer Bedeutung sein, insbesondere, wenn auf einen Vorhalt die Erinnerung wieder einsetzt und er seine damaligen Ausführungen dann selbständig ergänzt. (Daher: Vernehmungen nicht direkt "en bloc" vorhalten, sondern erst "anteasern" und schauen, ob sich der Zeuge dann wieder erinnert - andererseits aber auch nicht in unwürdige Quizspiele verfallen, wie "Wissen Sie noch, was Sie damals auf die Frage geantwortet haben, die ich gerade vorgelesen habe? Nein? Ich gebe Ihnen mal ein Stichwort: ... Noch nicht? Ein weiteres Stichwort: ...")
Wichtig sind auch Vernehmungs- und Fragetechnik. Man sollte den Zeugen wirklich, wie es das Gesetz vorsieht, zu Beginn im Zusammenhang berichten lassen und auch dann, wenn es in den Fingern kribbelt, Fragen erst einmal zurückstellen, und nicht nach zwei Sätzen schon mit Nachfragen kommen. Man sollte den Zeugen nicht ständig unterbrechen, wenn er nun eben einmal etwas langatmiger berichtet, ihn aber auch nicht unendlich schwafeln lassen. Man sollte ihn vor allem nicht mit falschen oder missverständlichen Vorhalten oder Fragen verwirren. Und man sollte doch bitte in der Lage sein, sein Sprachniveau demjenigen des Zeugen (und seinen intellektuellen und sprachlicen Möglichkeiten) anzupassen. Wenn der Zeuge die Kumpels bei der Schlägerei damals nur mit Vor- oder Spitznamen kennt, dann fragt man ihn eben unter Verwendung dieser Namen (ggf. unter Hinweis, dass man damit keine Missachtung beabsichtigt). Es macht überhaupt keinen Sinn, ständig zu fragen "Und wo stand der Herr Müllerschulzenmeier in diesem Moment?", wenn der Zeuge dann immer nur fragt "Sorry, war das der Toni oder der Schnalles?". Es sollte von einem Volljuristen nicht zuviel verlangt sein, sich diese Vor- oder Spitznamen über den Verlauf einer Vernehmung zu merken. Gleichfalls hilft es nicht, wenn man einfach strukturierten Menschen oder solchen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, mit komplexen, hochgestochenen Formulierungen kommt: "Ich werde Ihnen nunmehr einen Vorhalt aus den Akten dergestalt machen, dass Sie bei Ihrer polizeilichen Vernehmung dem Protokoll gemäß folgendes ausgeführt haben sollen" -> "Sie waren ja auch einmal bei der Polizei zu einer Vernehmung. Ich lese Ihnen jetzt einmal vor, was die Polizei damals aufgeschrieben hat".
Es macht auch nicht immer Sinn, mit der Tür ins Haus zu fallen. Wenn man einen Widerspruch zu früheren Angaben des Zeugen oder zu Angaben anderer Zeugen festgestellt zu haben glaubt, ist es meistens nur mittelgut, direkt zu rufen: "Das hat xyz aber gerade / das haben Sie aber damals doch ganz anders geschildert! Der hat gesagt / Sie haben damals gesagt, es sei so und so gewesen." - Unterboten wird das dann nur von: "Das hat aber doch jemand ganz anders gesagt, ich weiß allerdings gerade nicht mehr, wer!" Sinnvollerweise fragt man zunächst einmal nach und klärt das, was der Zeuge gerade gesagt hat, bis sich herausstellte, dass er mit anderen Worten dasselbe gesagt hat oder es ein Missverständnis gibt oder eben, dass seine (jetzige) Aussage der anderen tatsächlich unvereinbar gegenüber steht, so dass nur eine der beiden wahr sein kann. Das erspart zum einen die Verunsicherung des Zeugen, dem man vielleicht zu Unrecht implizit vorwirft, gelogen zu haben, und ermöglicht zum anderen, den Zeugen, der tatsächlich nicht die Wahrheit sagt, darauf festzunageln. Eine zu frühe Konfrontation erlaubt schnellen Denkern, mit "Ach so! Klar, da haben Sie mich jetzt auch missverstanden, ich meinte nämlich ..." zu reagieren.
Am wichtigsten ist es ohnehin, sich in den Zeugen, seine Situation und seine Möglichkeiten hineinzuversetzen.
Der Zeuge ist (zum ersten Mal) bei Gericht und unsicher und eingeschüchtert. Vielleicht hat er lange warten müssen. Viele Zeugen verstehen schlicht nicht, warum sie alles, was sie bei der Polizei gesagt haben, noch einmal neu erzählen müssen; sie denken dann entweder, man glaube ihnen nicht ("Glauben Sie mir nicht, was ich bei der Polizei gesagt habe?"), nehmen an, die Polizei habe ihre Aussage nicht notiert oder das Gericht habe die Akten nicht gelesen, oder sie lassen vieles weg, weil sie es ja schon gesagt haben. Gibt es Andeutungen für dieses Missverständnis, sollte man kurz erklären, warum man noch einmal alles von vorne erzählen muss, dass nämlich nur gilt, was hier vor Gericht gesagt wird, dass man den Zeugen aber gerne an seine damalige Vernehmung erinnert, wenn ihm etwas nicht mehr einfällt.
Das Gedächtnis des Menschen ist zudem unzuverlässig, und es priorisiert. Man sollte wissen, dass sich Routinetätigkeiten kaum je einprägen und verschwimmen, außerordentliche oder positiv oder negativ bedeutsame Ereignisse aber durchaus erinnert zu werden pflegen, und dass es nicht darauf ankommt, wie das Gericht oder der Durschschnittsmensch das Erlebnis einschätzt, sondern welche Bedeutung es für den Zeugen hatte. Kaum jemand weiß, was er letzte Woche, letzten Monat oder vor einem Jahr zum Frühstück hatte - es sei denn vielleicht, es war das Frühstück nach der Hochzeitsnacht. Wer Zeuge einer gravierenden Straftat, insbesondere Gewalttat, oder eines schweren Unfalls war, wird sich daran in der Regel gut erinnern. Das gilt aber natürlich nicht, wenn die Konfrontation damit gerade der Alltag ist. Polizisten nehmen ständig Straftaten auf, Rettungskräfte kommen ständig zu Unfällen. Was Gisela Musterfrau noch nach anderthalb Jahren erzählen kann, wie schlimm das war, wird beim Sanitäter oder Polizisten nach Tagen oder Wochen von den nächsten vergleichbaren Einsätzen überlagert.
Und man sollte bitte nicht die Binsenweisheit vergessen, dass Zeiten, Entfernungen und Geschwindigkeiten nur höchst unzuverlässig geschätzt werden können. Jeder kennt das Phänomen, dass manchmal der Sekundenzeiger schleicht und ein anderes Mal Stunden in Minuten zu vergehen scheinen. Dazu kommt, dass viele Menschen einfach nicht schätzen können. "Die Auseinandersetzung hatte kaum begonnen, dann war sie auch schon wieder vorbei. Er rief etwas, sie erwiderte, dann hat er sie geschlagen, sie schrief auf, noch ein Schlag, dann rannte sie weg." ... "Wie lange das gedauert hat? Vielleicht zwei, drei Minuten?" Das ist natürlich Unsinn; der geschilderte Vorgang kann nicht einmal eine Minute in Anspruch genommen haben. Bei Entfernungen kann man den Zeugen helfen, indem man bspw. Entfernungen im Raum verwendet: vom Zeugen zum Richter, vom Zeugen bis zur Wand, vom Zeugen bis zur Türm ...
"Geheimtipps" zur sicheren Beurteilung von Aussagen gibt es nicht; wer glaubt, er könne auf irgendeine einfache, narrensichere Weise erkennen, wer lügt und wer die Wahrheit sagt, macht sich etwas vor. Natürlich hilft dabei die Aussagepsychologie; sie ist aber kein Allheilmittel.
Das Bauchgefühl kann - wenn es ein gutes ist - sicherlich helfen; man darf aber nie vergessen, dass man das Bauchgefühl durch Tatsachen validieren muss.