Was ich allerdings völlig unverständlich finde, ist die Rezeption, die das Urteil durch Juristen (!) unter Zugrundelegung eines mehr oder weniger juristischen Maßstabes erfährt, gerade etwa im sog. "Verfassungsblog". Weit überwiegend bewerten die Rezensenten die Entscheidung dort äußerst negativ und stellen dem BVerfG ein vernichtendes Zeugnis aus. Hierdurch entsteht der Eindruck, die jeweiligen Autoren seien vor allem politisch enttäuscht von der angeblich "integrationsfeindlichen Wirkung", die ihrer eigenen meist pro-europäischen Haltung zuwider läuft.
Unverständlich finde ich die Rezeption aber vor allem, weil sie jedenfalls in dieser Form häufig auf verfassungsrechtlich nahezu unhaltbaren (teils impliziten) Behauptungen beruht. Hier exemplarisch der folgende kritische Beitrag mit meinen Anmerkungen dazu: "Auf dem Weg zum Richterfaustrecht?" https://verfassungsblog.de/auf-dem-weg- ... austrecht/
Zunächst zweifelt der Autor bereits grundsätzlich die Kompetenz des BVerfG an, über "ultra vires"-Akte überhaupt rechtzusprechen. Denn:
Diese Argumentation ist offensichtlich fehlerbehaftet. Die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten in den Verträgen kann nur so weit reichen, wie sich die Mitgliedstaaten verpflichten dürfen bzw. durften. Das wird durch die Verfassung bindend vorgegeben. Wenn die Verfassung aber - wie hier - vorschreibt, dass zumindest ein "Rest" an souveräner Entscheidungsbefugnis beim Bundestag verbleibt und das BVerfG dies überwacht (ohne diese Überwachung wäre dieser Vorbehalt gegenstandslos), dann können sich die Mitgliedstaaten überhaupt nicht verpflichten, derartige Fragen ausschließlich dem EuGH zu überantworten.In Art. 344 AEUV haben sich die Mitgliedstaaten sogar Folgendes versprochen: „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung der Verträge nicht anders als hierin vorgesehen zu regeln.“ Und als Gericht für das Europarecht ist eben der EuGH vorgesehen.
Seit dem Maastricht-Urteil 1993 beansprucht das BVerfG gleichwohl für sich, Kompetenzüberschreitungen der europäischen Einrichtungen und Organe festzustellen und entsprechende europäische Rechtsakte für in Deutschland unanwendbar zu erklären. (...)
Dieser Ansatz kann auf Dauer nicht gut gehen und war auch von vornherein nicht mit den Verträgen vereinbar, insbesondere mit Blick auf Art. 344 AEUV (siehe oben).
Zum eigentlichen Urteilsinhalt betont der Autor:
Auch das ist eine unsinnige begriffliche Argumentation. Die EZB ist unabhängig, aber als europäische Institution natürlich nur so weit, wie die Macht und Kompetenz der EU reicht. Diese findet aber angesichts der fortdauernden deutschen Souveränität und Verfassung, evident ihre Grenze (u.a.) im Grundgesetz.Aber es ist tatsächlich so, dass das deutsche Verfassungsgericht sich auf den Weg macht, die unabhängige (!) europäische (!!) Zentralbank in seine Schranken zu verweisen.
Anders gewendet: die Macht der EU reicht, wie bereits ausgeführt, nur so weit, wie die Mitgliedstaaten ihr Macht übertragen konnten. Die Grenze hierfür bilden aber u.a. die nationalen Verfassungen. Deshalb kann es denklogisch und verfassungsrechtlich keine "Unabhängigkeit" der EZB jenseits der nationalen Verfassungen geben.
Was sollte daran auch nur im Ansatz befremdlich sein? Wenn es, was angesichts der Bedeutung der Verfassung naheliegt und was in ständiger Rspr. so entschieden wurde, ein individuelles "Recht auf Demokratie" jedes Bundesbürgers gibt, dann darf eben jeder Bundesbürger dieses Recht einklagen. Welche subjektiven politischen Ansichten er verfolgt ist dabei vollkommen unerheblich. Entscheidend ist die juristische Bewertung seiner Verfassungsbeschwerde, kein politisch gefärbtes "cui bono?" oder "wehe, die Falschen applaudieren".Dass das BVerfG hier mit einer äußerst kühnen Zulässigkeitskonstruktion immer wieder denselben antieuropäischen Klägern ein Forum bietet, denen es ausdrücklich um die Abschaffung der gemeinsamen Währung geht – AfD-Gründer Lucke etwa –, gehört auch zu den befremdlichen Aspekten dieser Rechtsprechung.
Welche Alternative schlägt der Autor denn vor? Soll der Erfolg einer Verfassungsbeschwerde von den politisch genehmen Hintergründen der Beschwerdeführer abhängen? Falls er dies nicht in Erwägung zieht, warum sollte es dann "befremdlich" sein?
Der Autor hat offensichtlich keine Ahnung. Das BVerfG hat die Aufgabe, die Vereinbarkeit des staatlichen Handelns mit dem GG zu prüfen. Es soll nicht großzügig über Verstöße gegen die Verfassung hinweg sehen, weil dies "für Stabilität sorgen" würde. Evident verwechselt der Autor Stabilität mit der Verwirklichung seiner eigenen politischen Überzeugungen - die hier, höchstrichterlich festgestellt, mit der Verfassung unvereinbar sind. Folgte man dem Autor, hätte dies bedenkliche Folgen: sollte sich etwa ein Verfassungsgericht auch bei sonstigen Rechtsverstößen des Staates in vornehmer Zurückhaltung üben, da dies ja der "Stabilität" zuträglich sei?Das BVerfG macht nicht das, was seine Aufgabe ist: für Stabilität sorgen.
Ich könnte noch ewig fortfahren und es finden sich auch in den übrigen Beiträgen teilweise höchst fragwürdige Behauptungen, aber hierbei will ich es zunächst belassen.
Was ist euer Eindruck?