Manches muss einfach gemeldet werden

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Strich
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Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Strich »

Ich glaube bei Zugrundelegung der Schweretheorie kann man beide Sachen gut argumentieren (was das Ganze schlimmer macht): Einerseits sind die Betreuungsanhörungen in den Eilfällen faktisch sinnlos. Ich verstehe den sachlichen Grund, dass eine neutrale Instanz von außen in das System "Krankenhaus/Psychiatrie" schauen soll, bevor da jemand eingesperrt wird. Ich habe aber noch nie gesehen, dass so ein Antrag abgelehnt wird. Am "besten" sind die Fälle, in denen jemand 5-Punkt fixiert und ruhiggestellt wird. Wenn man den dann anhören will, schläft der meistens in Katharsis. Will man den dann wecken und so den Genesungserfolg gefährdern? Hinzukommt, dass die knappen Ressourcen die Krankenhäuser ohnehin zwingen, niemanden unterzubringen, der es nicht auch braucht. Ich kann mir vor dem Hintergrund einfach keinen Patienten vorstellen, der da eigentlich nicht hingehört, zumal die Anträge auch immer nur in den krassen Fällen gestellt werden.

Umgekehrt spricht für die Schwere, dass es eben um einen Freiheitsentzug geht, bei dem das BVerfG einfach keinen Spaß versteht und sich wenig um praktische Belange kümmert. Das scheint mir auch richtig zu sein. Auch wenn das in 1000 Fällen sinnlos ist, reicht es, den einen mit nem Richtervorbehalt zu schützen. Aber für die Rechtsbeugung finde ich die nicht durchgeführte Anhörung eher meh.
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Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Theopa »

Strich hat geschrieben: Dienstag 14. März 2023, 14:39 Ich glaube bei Zugrundelegung der Schweretheorie kann man beide Sachen gut argumentieren (was das Ganze schlimmer macht): Einerseits sind die Betreuungsanhörungen in den Eilfällen faktisch sinnlos. Ich verstehe den sachlichen Grund, dass eine neutrale Instanz von außen in das System "Krankenhaus/Psychiatrie" schauen soll, bevor da jemand eingesperrt wird. Ich habe aber noch nie gesehen, dass so ein Antrag abgelehnt wird.
Wenn das Erfordernis der Anhörung deren praktische Sinnlosigkeit zur Folge hat, dürfte der Hauptzweck der Norm erfüllt sein: Solange man davon ausgehen kann/muss, dass wenigstens in den allermeisten Fällen mal ein Richter vorbeikommen wird, dürfte die Gefahr für willkürliches Wegsperren geringer sein als sie es im Falle einer Kann-Anhörung wäre.

Wenn eine Richterin in Einzelfällen - wobei das u.U. auch die deutliche Mehrheit aller Fälle sein könnte - auf die Anhörung verzichtet kann man vielleicht noch davon ausgehen, dass sie eine gewisse Erforderlichkeits-Komponente dazudichtet und sich durch eine Optimierung der Arbeitsabläufe noch im Bereich "Schwer vertretbar aber im Sinne der Sachgerechtigkeit" befindet. Sobald es der neue Regelfall wird und auch bei besonders grenzwertigen Einzelfällen keine anderweitige Vorgehensweise gewählt wird dürfte dieser Bereich aber deutlich verlassen sein.

Oder anders gesagt: Hört sie nur in 5 von 100 Fällen an, da sie genau diese Fälle problematisch findet sehe ich keine Rechtsbeugung. Hört sie in 5 von 100 Fällen an, da zufällig sehr wenig Neueingänge ankommen und sie gerade Zeit hat wird es kritisch.
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Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Liz »

Strich hat geschrieben:
Liz hat geschrieben: Donnerstag 9. März 2023, 21:27 Die §§ 331, 332 FamFG und die dazugehörige BGH-Rechtsprechung sind an Klarheit kaum zu überbieten. Die Annahme von Gefahr in Verzug iSv § 332 FamFG, weil der Richter keine Zeit oder Lust hat, den Betroffenen vorher anzuhören, scheint bereits grenzwertig. Aber selbst wenn man da eine großzügigere Meinung im eigenen Interesse vertritt, ist § 332 S. 2 FamFG eindeutig: Die unterlassene Anhörung ist „unverzüglich“ nachzuholen. Was „unverzüglich“ heißt, ist Erstsemesterwissen. Der BGH fordert eine Anhörung spätestens am Folgetag und nicht erst beim nächsten geplanten Besuch in der Psychiatrie. Davon ist eine Anhörung nach 20 oder 50 Tagen doch sehr weit entfernt. Man stelle sich vor, die Anhörung hätte tatsächlich mal ergeben, dass der Betroffene entgegen der Einschätzung der beteiligten Ärzte gar nicht unterzubringen war.

Die Aussage gegenüber der Kollegin, sie vertrete eben eine andere Rechtsauffassung, würde ich als Schutzbehauptung werten. Wer würde schon einräumen, dass er ganz genau weiß, dass sich die eigene Praxis jenseits des noch vertretbaren bewegt?
m.E. genügt ein Blick in die maßgebliche BVerfG-Entscheidung (BVerfG, Urteil vom 24.7.2018 – 2 BvR 309/15, 2 BvR 502/16). Ich frage mich nur, was das in der Sache helfen soll? Willst du sagen, dass jede Abweichung von der obergerichtlichen Rechtsprechung Rechtsbeugung begründet oder zumindest indiziert?

oder anders: Deine Argumentation rennt halt offene Türen ein. Schätze ich das Verhalten der Angeklagten als falsch ein? Ja. Ist es unvertretbar? Keine Ahnung, ich weiß ja nicht was das vor dem Hintergrund des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebotes bedeuten soll! Bisher ging ich davon aus, dass man dem Angeklagten Rechtskenntnis nachweisen müsse: Er weiß positiv, dass es anders richtig ist und handelt tortzdem gegen seine Rechtskenntnis.

Das Problem deutet sich doch schon bei dir und Joshua an und ist im System angelegt. Bei der Rechtsbeugung wird es dann halt mal virulent:
Wer bestimmt denn was "Recht" ist. Hierfür haben wir Gerichte bzw. den Richter installiert. Dessen Rechtserkenntnis entscheidet den Fall. Wieso ist jetzt konkret die Rechtserkenntnis eines Landgerichts schlechter als die eines Oberlandesgerichts. Warum ist die Rechtserkenntnis des Landgerichts besser als die des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft oder - Gott bewahre - des Verteidigers? Die letzte Frage kann man zumindest institutionell beantworten aber m.E. kaum in der Sache. Deswegen habe ich auch ein so großes Problem mit der Grenzziehung der Rechtsbeugung. Die darf halt nicht zur Bestrafung von Fehlurteilen führen.

Wäre es deiner Ansicht nach (auch wenn es nicht strafbar ist) "fahrlässige Rechtsbeugung", wenn ich mir über bestimmte Rechtsnormen keine Gedanken mache? Weißt du wie lange Richter bspw. noch Unabwendbarkeit nach § 7 Abs. 2 StVG a.F. in ihren Urteilen geprüft haben, owbohl die Neuregelung schon lange nur noch höhere Gewalt vorsah? War das auch (fahrlässige) Rechtsbeugung, weil sie nicht ins Gesetz geschaut haben? Deine Orientierung an der obergerichtlichen Rechtsprechung dürfte - wenn sich die StA diese Auffassung zu eigen macht - das PErsonalproblem der Justiz dramatisch vergrößern.
Mir scheint die persönliche Anhörung in Unterbringungssachen essenziell und unstreitig zu sein und zwar unabhängig von der Entscheidung des BVerfG zu den Fixierungen (dort fehlte es ja oftmals bereits an Rechtsgrundlagen für eine gerichtliche Entscheidung und an Strukturen zur Sicherstellung einer zeitnahen richterlichen Entscheidung - Stichwort Bereitschaftsdienst von 6 Uhr bis 21 Uhr). § 332 FamFG ermöglicht nur eine Entscheidung vor der persönlichen Anhörung des Betroffenen, fordert aber die unverzügliche Nachholung der Anhörung. Auch die Voraussetzungen des § 34 FamFG wird man in Unterbringungssachen kaum jemals ernsthaft annehmen können. All dies ergibt sich aus dem Wortlaut des Gesetzes bzw einigen wenigen zentralen höchstrichterlichen Entscheidungen. Unkenntnis dieser Rechtslage / Rechtsprechung kann man mE als Betreuungsrichter kaum erklären - außer vielleicht mit grundlegender Ignoranz zentraler Aspekte der eigenen Tätigkeit. Das ist halt so wie der Haftrichter, der sich die Vorführung des Verhafteten spart, weil „der bleibt ohnehin in Haft“ oä.

Die praktisch vollständige Verweigerung von rechtlichem Gehör im grundrechtsrelevanten Bereich ist m. E. auch so schwerwiegend, dass es gerechtfertigt ist, hier das scharfe Schwert der Rechtsbeugung zu bemühen. Es geht hier mE um wirklich krasses Unrecht und nicht um die Bestrafung von „Fehlurteilen“ oder einer Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung - letzteres kann ja durchaus sachlich begründet erfolgen und zur Abänderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung führen. Dementsprechend taugt der hiesige Fall mE nur bedingt dazu, die Grenze zur einfach fehlerhaften Rechtsanwendung zu eruieren. Ich würde vielmehr meinen: wenn die Unterbringung ohne (zeitnah nachgeholte) persönliche Anhörung keine vorsätzliche Rechtsbeugung ist, dann kann man den Straftatbestand eigentlich auch gleich streichen.
Liz
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Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Liz »

Strich hat geschrieben:Ich glaube bei Zugrundelegung der Schweretheorie kann man beide Sachen gut argumentieren (was das Ganze schlimmer macht): Einerseits sind die Betreuungsanhörungen in den Eilfällen faktisch sinnlos. Ich verstehe den sachlichen Grund, dass eine neutrale Instanz von außen in das System "Krankenhaus/Psychiatrie" schauen soll, bevor da jemand eingesperrt wird. Ich habe aber noch nie gesehen, dass so ein Antrag abgelehnt wird. Am "besten" sind die Fälle, in denen jemand 5-Punkt fixiert und ruhiggestellt wird. Wenn man den dann anhören will, schläft der meistens in Katharsis. Will man den dann wecken und so den Genesungserfolg gefährdern? Hinzukommt, dass die knappen Ressourcen die Krankenhäuser ohnehin zwingen, niemanden unterzubringen, der es nicht auch braucht. Ich kann mir vor dem Hintergrund einfach keinen Patienten vorstellen, der da eigentlich nicht hingehört, zumal die Anträge auch immer nur in den krassen Fällen gestellt werden.

Umgekehrt spricht für die Schwere, dass es eben um einen Freiheitsentzug geht, bei dem das BVerfG einfach keinen Spaß versteht und sich wenig um praktische Belange kümmert. Das scheint mir auch richtig zu sein. Auch wenn das in 1000 Fällen sinnlos ist, reicht es, den einen mit nem Richtervorbehalt zu schützen. Aber für die Rechtsbeugung finde ich die nicht durchgeführte Anhörung eher meh.
Sicherlich ist richtig, dass in vielen Fällen die Anhörung schlichtweg die ärztliche Einschätzung bestätigt, nämlich dass es besser ist, wenn der Betroffene nicht draußen frei rumläuft. Allerdings habe ich in meiner Zeit als Betreuungsrichterin auch durchaus einige wenige Fälle gehabt, in denen ich eine Unterbringung abgelehnt habe, weil die rechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben waren. Zu solchen Entscheidungen kommt man aber nur, wenn man die Betroffenen tatsächlich anhört und kritisch die Tatsachengrundlage hinterfragt, die einem unterbreitet wird. Wer das nicht macht, überlässt es letztlich dem Zufall, ob in seinem Zuständigkeitsbereich nur dann untergebracht / fixiert / zwangsbehandelt wird, wenn es unumgänglich ist oder wenn die Ärzte es irgendwie für notwendig befinden - woher sollen die aber die rechtlichen Grenzen kennen, wenn das Gericht praktisch den Dialog verweigert?
Joshua
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Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Joshua »

Das ist wieder das Diskursklima hier. Mein Beitrag wird einfach ignoriert... Sehr gut, Liz.

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Beitrag von Liz »

Theopa hat geschrieben:
Strich hat geschrieben: Dienstag 14. März 2023, 14:39 Ich glaube bei Zugrundelegung der Schweretheorie kann man beide Sachen gut argumentieren (was das Ganze schlmacht): Einerseits sind die Betreuungsanhörungen in den Eilfällen faktisch sinnlos. Ich verstehe den sachlichen Grund, dass eine neutrale Instanz von außen in das System "Krankenhaus/Psychiatrie" schauen soll, bevor da jemand eingesperrt wird. Ich habe aber noch nie gesehen, dass so ein Antrag abgelehnt wird.
Wenn das Erfordernis der Anhörung deren praktische Sinnlosigkeit zur Folge hat, dürfte der Hauptzweck der Norm erfüllt sein: Solange man davon ausgehen kann/muss, dass wenigstens in den allermeisten Fällen mal ein Richter vorbeikommen wird, dürfte die Gefahr für willkürliches Wegsperren geringer sein als sie es im Falle einer Kann-Anhörung wäre.

Wenn eine Richterin in Einzelfällen - wobei das u.U. auch die deutliche Mehrheit aller Fälle sein könnte - auf die Anhörung verzichtet kann man vielleicht noch davon ausgehen, dass sie eine gewisse Erforderlichkeits-Komponente dazudichtet und sich durch eine Optimierung der Arbeitsabläufe noch im Bereich "Schwer vertretbar aber im Sinne der Sachgerechtigkeit" befindet. Sobald es der neue Regelfall wird und auch bei besonders grenzwertigen Einzelfällen keine anderweitige Vorgehensweise gewählt wird dürfte dieser Bereich aber deutlich verlassen sein.

Oder anders gesagt: Hört sie nur in 5 von 100 Fällen an, da sie genau diese Fälle problematisch findet sehe ich keine Rechtsbeugung. Hört sie in 5 von 100 Fällen an, da zufällig sehr wenig Neueingänge ankommen und sie gerade Zeit hat wird es kritisch.
Aber das weiß man doch vorher nicht, welche Fälle das sind, in denen man die Unterbringung / Maßnahme ablehnen muss. Es gibt auch Fälle, die scheinen nach Aktenlage (hier in der Regel einige wenige handschriftliche Sätze der Begründung eines Arztes) „klar“, aber wenn man dann den Betroffenen vor sich sitzen hat, ist das ggf schon weniger klar - oder wenn man anfängt, das, was einem geschildert wird, kritisch zu hinterfragen.
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Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Liz »

Joshua hat geschrieben:Das ist wieder das Diskursklima hier. Mein Beitrag wird einfach ignoriert... Sehr gut, Liz.
Ich habe Deinen Beitrag zur Kenntnis genommen, sehe aber keinen Anlass ihn gesondert zu kommentieren - spätestens jetzt hätte ich auch keine Lust mehr dazu.
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thh
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Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von thh »


Joshua hat geschrieben:Mein Beitrag wird einfach ignoriert...
Das ist ja auch das Sinnvollste, was man damit tun kann.


Deutsches Bundesrecht? https://www.buzer.de/ - tagesaktuell, samt Änderungsgesetzen und Synopsen
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Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Strich »

Liz hat geschrieben: Dienstag 14. März 2023, 21:16 ...

Aber das weiß man doch vorher nicht, welche Fälle das sind, in denen man die Unterbringung / Maßnahme ablehnen muss. Es gibt auch Fälle, die scheinen nach Aktenlage (hier in der Regel einige wenige handschriftliche Sätze der Begründung eines Arztes) „klar“, aber wenn man dann den Betroffenen vor sich sitzen hat, ist das ggf schon weniger klar - oder wenn man anfängt, das, was einem geschildert wird, kritisch zu hinterfragen.
Ich will hier ja jetzt nicht die Büchse der Pandora aufmachen, aber wir reden nicht darüber, dass das ganze falsch ist, darüber sind wir uns alle einig.
Klar ist auch, dass es sich um einen grundrechtssensiblen Bereich handelt in denen die Anhörung des Betroffenen eine von mehreren Erkenntnisquellen ist. Sie ist von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen für die spätere Entscheidung faktisch bedeutungslos.
Deswegen ziehe ich hier noch mal den Vergleich zu den Vollstreckungs- und E-Haftbefehlen: Auch die erfolgen in einem grundrechtssensiblen Bereich, was m.E. für die Frage Rechtsbeugung ja oder nein von eher untergeordneter Bedeutung ist. Die Mehrzahl der mir bekannten Rechtsbeugungsverurteilungen drehen sich so gut wie nicht um diese Frage. All das ist mir aber mehr oder weniger egal! Oder um es noch anders auszudrücken: Ich kann dir auch ohne weiteres zustimmen Liz. Es bleibt bei mir aber dennoch ein erhebliches Störgefühl, weil ich mir unter diesen Voraussetzungen ganz einfach Fälle vorstellen kann, in denen Liz da sitzt und mir vom warmen Feuer der Rechtsstaatlichkeit gemütlich erklärt was Rechtsbeugung ist und ich ganz einfach da sitze und denke: Ja gut, das war irgendwie falsch was ich da gemacht habe erkenne ich jetzt auch aber damals habe ich mir darüber gar nicht so Gedanken gemacht. Ich dachte das ginge so.
Deswegen brachte ich auch das Beispiel mit der Änderung von § 7 Abs. 2 StVG, die in den 10er Jahren noch nicht bei allen angekommen ist. Solche Dinge passieren und ich halte den Fall er hier Angeklagten für wesentlich näher am Unvermögen als an der Rechtsbeugung.

Liz wir können ja auch gerne mal an dein Betätigungsfeld rangehen und den Vergleich dort suchen: Du sitzt doch in einer Zivilkammer. Wie oft hast du bzw. die Geschäftsstelle schon unverzüglich ein VU im schriftlichen Vorverfahren erlassen? Wollen wir da mal in die Akten gehen und die Fristen kontrollieren ;-). Ich würde mich da lieber nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen. Die Praxis, die ich da bei mehreren Landgerichten und Amtsgerichten gesehen habe, ist die, dass die Geschäftsstelle und auch der jeweilige Richter gerne mal ein paar Tage ins Land gehen lassen, bis vorgelegt/entschieden wird. Es passiert zwar selten, aber ab und an kommt dann doch mal noch eine Verteidigungsanzeige und das VU für den Kläger ist futsch. Im schlimmsten Fall wird der Beklagte dann im Verfahren insolvent und von der vorläufigen Vollstreckbarkeit kann keiner mehr gebrauch machen.
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Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Liz »

Und wie willst Du in den Bereich einer vorsätzlichen Rechtsbeugung kommen, wenn der Richter am Ende der Eingangsverfügung eine übliche WV-Frist notiert hat und regelmäßig auch zeitnah nach Ablauf der Frist über den Erlass entscheidet und es nur im bedauerlichen Einzelfall „aus Gründen“ (Akte verfächert, Frist falsch notiert oä) erst zum verspäteten Erlass bzw Nichterlass des VU kommt? Würdest Du umgekehrt bei einem Kollegen, der Dir erklärt, er notiere da immer eine WV-Frist von 6 Monaten, wer früher ein VU haben wolle, könne sich ja melden, wirklich nur von Unvermögen ausgehen?

Letztlich geht es doch darum, ob man dem Kollegen glaubt, dass er davon ausgeht, dass sein Handeln noch irgendwie vertretbar ist. Und da scheint mir hier der Knackpunkt zu liegen: ich glaube der Kollegin anhand der bekannten Informationen schlichtweg nicht, dass sie nicht wusste, dass sie den Betroffenen spätestens am nächsten Tag anhören muss und nicht erst nach 20 oder 50 Tagen oder vielleicht auch gar nicht. Spätestens nach dem Gespräch mit der Kollegin hätte doch Anlass bestanden, die eigene Praxis zu überdenken. Das mag bei Kollegen, die stur das alte Recht anwenden, bis ihnen mal jemand sagt, dass sie nun wirklich nicht mehr auf dem
Laufenden sind, anders sein - die Reaktion ist da wahrscheinlich auch eher „Upps, danke für den Hinweis. Muss ich mir mal anschauen.“
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Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von scndbesthand »

Würdest Du umgekehrt bei einem Kollegen, der Dir erklärt, er notiere da immer eine WV-Frist von 6 Monaten, wer früher ein VU haben wolle, könne sich ja melden, wirklich nur von Unvermögen ausgehen?
Ich kann das Störgefühl von Stich immer mehr nachvollziehen, spätestens nach diesem Beispiel.
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Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Versicherungsnehmer »

Nur interessenhalber: Woraus ergibt sich, dass ein VU im schriftlichen Vorverfahren (bei Vorliegenden der Voraussetzungen) "unverzüglich" zu erlassen ist?
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Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Strich »

Versicherungsnehmer hat geschrieben: Donnerstag 16. März 2023, 11:46 Nur interessenhalber: Woraus ergibt sich, dass ein VU im schriftlichen Vorverfahren (bei Vorliegenden der Voraussetzungen) "unverzüglich" zu erlassen ist?
1. Beschleunigungsgrundsatz
2. § 331 Abs. 3 S. 1 ZPO. Da steht noch nicht mal unverzüglich drin. Und Vorsicht: Arbeitsüberlastung ist gerade kein Argument zu sagen: Ach heute bin ich nicht zur Akte gekommen ...
3. Das VU ist nach § 708 ZPO vorläufig vollstreckbar und damit ein Mittel des Klägers einer Insolvenz des Beklagten (ein Stück weit) zuvor zu kommen sowie zeitnah eine (vorläufige) Befriedigung zu erhalen.
4. Es soll die fehlende Mitwirkung der anderen Partei, die nach dem Dispositionsgrundsatz Mit-Herrin des Verfahrens ist, für die fehlende Mitwirkung sanktionieren. Dieser Zweck würde unterlaufen, würde man das VU irgendwann erlassen.
5. Was willst du mit der Akte, die entscheidungsreif ist, denn sonst machen, außer eben entscheiden?
Liz hat geschrieben: Mittwoch 15. März 2023, 15:44 Und wie willst Du in den Bereich einer vorsätzlichen Rechtsbeugung kommen, wenn der Richter am Ende der Eingangsverfügung eine übliche WV-Frist notiert hat und regelmäßig auch zeitnah nach Ablauf der Frist über den Erlass entscheidet und es nur im bedauerlichen Einzelfall „aus Gründen“ (Akte verfächert, Frist falsch notiert oä) erst zum verspäteten Erlass bzw Nichterlass des VU kommt?
Ich hoffe, wir sind uns einig, dass Rechtsbeugung ein "Singular"Delikt ist. Es ist also gerade nicht erforderlich, dass bestimme Fehler mehrmals passieren. Rechtsbeugung kann also auch in der Falschbehandlung einer einzigen Akte vorliegen.


Liz hat geschrieben: Mittwoch 15. März 2023, 15:44Würdest Du umgekehrt bei einem Kollegen, der Dir erklärt, er notiere da immer eine WV-Frist von 6 Monaten, wer früher ein VU haben wolle, könne sich ja melden, wirklich nur von Unvermögen ausgehen?
Grundsätzlich schon, wobei ich das Beispiel gut finde. Das wäre schon ein starkes Stück und gut mit dem hiesigen Fall vergleichbar. Ich bin ja auch in dem Anhörungsfall hin und hergerissen (ich weiß, das kommt nicht so ganz rüber, es ergibt aber gerade auch keinen Sinn ins selbe Horn der Rechtsbeugung zu blaßen).

Wie siehst du denn den Fall der Anhörung, wenn jetzt irgendwie ne Pandemie daher kommt (ich weiß, völlig fernliegend ^^) und die beteiligten Richter entscheiden, aus Gesundheitsschutzgründen von den Anhörungen abzusehen, um die Pandemie nicht durch alle Krankenhäuser zu tragen?
Unterstellt, die Pandemie betrifft vor allem Jüngere fakisch nicht, dann wird dir § 34 Abs. 2 FamFG nicht helfen, weil es auf die Gesundheit der übrigen Bevölkerung nicht ankommt. Bin ich damit NOCH im Mindermeinungsbereich oder SCHON im Unvertretbaren? Wie soll das der beschuldigte Rechtsbeuger in der Situation wissen?

Die anwesenden Staatsanwälte können ja mal überlegen, wie oft sie in Fällen des § 408 Abs. 3 StPO eigentlich auf ihrem Antrag "beharren", was also eine Anhörung der StA VOR Terminierung voraussetzt.
Meine Erfahrung ist da: Terminier doch einfach und spar dir den Aktenumlauf.
Rechtsbeuge ich jetzt, wenn ich nicht vor Terminierung anhöre?

Ich könnte vermutlich noch viel mehr Beispiele benennen, aber ich glaube es ist klar geworden, was ich meine.
Liz hat geschrieben: Mittwoch 15. März 2023, 15:44 Letztlich geht es doch darum, ob man dem Kollegen glaubt, dass er davon ausgeht, dass sein Handeln noch irgendwie vertretbar ist. Und da scheint mir hier der Knackpunkt zu liegen: ich glaube der Kollegin anhand der bekannten Informationen schlichtweg nicht, dass sie nicht wusste, dass sie den Betroffenen spätestens am nächsten Tag anhören muss und nicht erst nach 20 oder 50 Tagen oder vielleicht auch gar nicht. Spätestens nach dem Gespräch mit der Kollegin hätte doch Anlass bestanden, die eigene Praxis zu überdenken. Das mag bei Kollegen, die stur das alte Recht anwenden, bis ihnen mal jemand sagt, dass sie nun wirklich nicht mehr auf dem
Laufenden sind, anders sein - die Reaktion ist da wahrscheinlich auch eher „Upps, danke für den Hinweis. Muss ich mir mal anschauen.“
Da bin ich ja absolut dabei. Es wäre und ist immer meine Reaktion (weshalb ich mir auch alles aus der Rechtsmittelinstanz vorlegen lasse, was in Strafsachen ja nicht ümmer üblich ist), zu schauen was schief lief. Das Problem, und ich wiederhole mich, ist aber, wie soll der Beschuldigte erkennen, dass er schon das Recht beugt und gerade keine Mindermeinung mehr vertritt.

Weiß eigentlich jemand, wie das rechtsvergleichend aussieht? Haben die Franzosen/Briten "Rechtsbeugung" als Straftatbestand?
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Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Versicherungsnehmer »

Danke für die Erläuterung, aber zwischen "unverzüglich" und "irgendwann" liegt doch ein Unterschied.
"§ 331 Abs. 3 S. 1 ZPO. Da steht noch nicht mal unverzüglich drin." - eben, auch nicht in den Kommentaren, deshalb meine Nachfrage ;-)
Liz
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Beitrag von Liz »

@Strich:

@„Singulardelikt“ - das ist richtig, aber rein faktisch wird man in den Fällen, in denen es vorrangig um eine falsche Sachbehandlung ohne konkretes Tatmotiv bzgl einer der Parteien geht, eine vorsätzliche Rechtsbeugung nur nachweisen können, wenn es sich um eine systematische falsche Vorgehensweise handelt, die sich nicht mehr mit einem Versehen im Einzelfall erklären lässt.

@Pandemie: Da muss man ja letztlich Überlegungen zur Kollision von Rechten mit Verfassungsrang anstellen (rechtliche Gehör vs Gesundheitsschutz des Betroffenen bzw. Dritter). Hier würde ich meinen, dass bei neuen Situationen, für die keine (eindeutige) höchstrichterliche Rechtsprechung existiert, der Entscheidungsspielraum des einzelnen Richters größer sein muss. Das Idealbild ist ja der Richter, der nach besten Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person nach Recht und Gesetz entscheidet. Wenn ich in die Begründung reinschreibe, warum, weshalb, wieso ich ausnahmsweise nicht angehört habe, weil es nämlich unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten nicht möglich war/erschien, dann kann man mE nicht mehr vom Richter verlangen.
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