Verwerfungskompetenz des Verwaltungsgerichts

Staatsrecht, Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht (Bau-, Kommunal-, Polizei- und Sicherheitsrecht, BImSchG etc.)

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JEE
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Verwerfungskompetenz des Verwaltungsgerichts

Beitrag von JEE »

Es ist nicht ganz klar, auf welche Normen sich die Prüfungs- und Verwaltungskompetenz des Verwaltungsgerichts richtet.

Einerseits gibt § 47 VwGO vor, dass das Verwaltungsgericht über Satzungen und RVO des BauGB (Nr.1) sowie Rechtsvorschriften im Rang unter dem Landesgesetz (Nr.2) entscheiden kann.

Gemäß Art. 100 GG muss ein Gericht, sofern es ein Gesetz für verfassungswidrig hält, das Verfahren aussetzen und für den Fall dem BVerfG vorlegen.

Hat das Verwaltungsgericht nun eine Verwerfungskompetenz bzgl. Bundesrechtsverordnungen oder nur Landesrechtsverordnungen? Die gleiche Frage stellt sich bei Verwaltungsvorschriften auf Bundesebene.
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scndbesthand
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Re: Verwerfungskompetenz des Verwaltungsgerichts

Beitrag von scndbesthand »

Bewege mich hier zwar komplett außerhalb meines Fachgebietes, aber:

§ 47 VwGO regelt ein Normenkontrollverfahren vor dem OVG, nicht vor dem VG. Das Verfahren ist anders als Art. 100 GG gestaltet, antragsbefugt sind potenziell Rechtsbetroffene. Diese Verfahrensart schränkt m. E. auch nicht die Normverwerfungskompetenz der Verwaltungsgerichtsbarkeit in anderen Verfahrensarten ein. Maßstab dafür ist Art. 100 GG.

Art. 100 GG meint formelle Gesetze, Rechtsverordnungen also nicht. RVO können also vom VG verworfen werden. Unabhängig davon, ob Bundes- oder LandesRVO.
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jona7317
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Re: Verwerfungskompetenz des Verwaltungsgerichts

Beitrag von jona7317 »

Ja, Art. 100 GG meint nur formelle Gesetze.
Prüfungs- und Verwerfungskompetenz solltest du sauber trennen:

Die Verwaltungsgerichte haben eine (inzidente) Prüfungskompetenz für alle Normen, auch formelle Gesetze. Sie dürfen Gesetze unter dem Rang des formellen Gesetzes unangewendet lassen, soweit sie diese für unvereinbar mit höherrangigem Recht halten. Das ist nicht wirklich eine Verwerfungskompetenz, denn damit wird ja nicht die Ungültigkeit erga omnes festgestellt sondern die Norm nur auf den Einzelfall nicht angewendet. Die Aussage von @scndbesthand, dass VGs Verordnungen verwerfen können stimmt als nicht ganz.
Bei formellen Gesetzen haben sie die Prüfungskompetenz, müssen aber wenn sie zur Verfassungswidrigkeit kommen eine konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 I GG bemühen. Formelle Gesetze dürfen sie nicht unangewendet lassen, die muss das BVerfG für ungültig erklären.

Verwerfungskompetenz im eigentlichen Sinne, d.h. die Kompetenz erga omnes die Ungültigkeit einer Norm festzustellen, haben nur die OVGs im Verfahren nach § 47 VwGO und das BVerfG in abstrakter und konkreter Normenkontrolle. Die abstrakte Normenkontrolle vor dem BVerfG ist nicht auf formelle Gesetze beschränkt, da kann i.E. jede Rechtsnorm angegriffen werden.
Heisst konkret: Die OVGs haben Ververfungskompetenz für ausgewählte Teile des Landesrechts unter dem Rang formellen Gesetzes. Das BVerfG hat in konkreter Normenkontrolle die Verwerfungskompetenz für formelles Recht und in abstrakter Normenkontrolle die Verwerfungskompetenz für alle Rechtsnormen.
Hat das Verwaltungsgericht nun eine Verwerfungskompetenz bzgl. Bundesrechtsverordnungen oder nur Landesrechtsverordnungen? Die gleiche Frage stellt sich bei Verwaltungsvorschriften auf Bundesebene.
§ 47 VwGO regelt doch explizit wogegen die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle statthaft ist, im Ergebnis sind das nur einige materielle Gesetze auf Landesebene. Verwaltungsvorschriften sind rein verwaltungsinterne Regelungen ohne Aussenwirkung. Sind keine Normen und können mit keinem der genannten Verfahren angegriffen werden.
JEE
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Re: Verwerfungskompetenz des Verwaltungsgerichts

Beitrag von JEE »

Vielen Dank für die saubere Abgrenzung! Ich bin auf die Abgrenzungsschwierigkeiten bzgl den BundesRVO und LandesRVO aufgrund eines Falles bekommen. Hier wurden normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften (TA-Lärm) relevant. Diese haben eine gewisse Außenwirkung, weshalb das VG diese im konkreten Einzelfall scheinbar auch unangewendet lassen kann.

In einem Vermerk des Falles wurden Verwerfungskompetenz und "unangewendet lassen" synonym verwendet und sprach dem VG die "Verwerfungskompetenz" bzgl den normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften wie auch den Rechtsverordnungen zu. Was hierbei verwirrt ist, dass es sich bei den TA-Lärm, welche gem. § 48 I BImSchG erlassen werden können, doch solche des Bundes sind.

Woraus ergibt sich, dass das VG BundesRVO und "normkonkretisierende" Verwaltungsvorschriften unangewendet lassen kann und diese nicht über Art. 100 I GG dem BVerfG vorlegen müssen?
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thh
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Re: Verwerfungskompetenz des Verwaltungsgerichts

Beitrag von thh »

JEE hat geschrieben: Montag 13. März 2023, 23:42Woraus ergibt sich, dass das VG BundesRVO und "normkonkretisierende" Verwaltungsvorschriften unangewendet lassen kann und diese nicht über Art. 100 I GG dem BVerfG vorlegen müssen?
Daraus, dass Art. 100 G nur formelle nachkonstitutionelle Gesetze betrifft. Da mithin Rechtsverordnungen - und erst recht Verwalrungsvorschriften - davon nicht betroffen sind, ist eine Vorlage weder zulässig noch erforderlich.
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Re: Verwerfungskompetenz des Verwaltungsgerichts

Beitrag von jona7317 »

JEE hat geschrieben: Montag 13. März 2023, 23:42 Vielen Dank für die saubere Abgrenzung! Ich bin auf die Abgrenzungsschwierigkeiten bzgl den BundesRVO und LandesRVO aufgrund eines Falles bekommen. Hier wurden normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften (TA-Lärm) relevant. Diese haben eine gewisse Außenwirkung, weshalb das VG diese im konkreten Einzelfall scheinbar auch unangewendet lassen kann.
Ja, die Außenwirkung ist aber nicht der Grund, weshalb das VG sie unangewendet lassen kann. Verwaltungsvorschriften müssen (!) grundsätzlich von den VGs ignoriert werden, denn sie haben ja keine Außenwirkung und sind keine Rechtsnormen. Die sind auf der selben Stufe wie eine interne Weisung des Behördenleiters und ein rechtswidriger VA wird ja auch sonst nicht dadurch rechtmäßig, dass der Herr Bürgermeister aber gesagt hat wir sollen das machen :P

Die TAs Luft und Lärm sind die absolute Ausnahme, denn die müssen die VGs wie eine Rechtsnorm berücksichtigen und anwenden.
Die genaue Begründung wird sicher in der Lösung besser wiedergegeben sein aber im Wesentlichen sollen die ausnahmsweise auch die Verwaltungsgerichte binden, weil
1. Daran regelmäßig riesige Bauprojekte hängen und deshalb ein enorm gesteigertes Bedürfnis an Rechtssicherheit besteht und
2. Die dort geregelten Grenzwerte in einem "verobjektivierten" Verfahren von Sachverständigen ermittelt werden und deshalb besonders zuverlässig sind.

Im Einzelfall dürfen VGs diese dann - wie eben eine Rechtsnorm auch - unangewendet lassen, wenn sie entweder nicht mehr auf dem Stand der Technik sind oder die Umgebung im Sachverhalt ausnahmsweise in besonderer Weise schutz- oder schutzunwürdig ist. Aber nicht weil denen Außenwirkung zukommt, sondern obwohl denen Außenwirkung zukommt. Das ist also dann die Rückausnahme von der Ausnahme :D


Warum die nicht im Verfahren nach Art. 100 I GG vorgelegt werden müssen, hat thh ja schon beantwortet. Formelles Gesetz ist eben nur was durchs Parlament gegangen ist. Das sind die TAs nicht, deshalb kann und muss das VG sie nicht vorlegen.
JEE
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Re: Verwerfungskompetenz des Verwaltungsgerichts

Beitrag von JEE »

Super danke. Allerdings daraus, dass Art. 100 I GG nur formelle nachkonstitutionelle Gesetze erfasst ergibt sich doch nicht unmittelbar oder nur mittelbar, dass das VG die materielle Gesetze unangewendet lassen kann. Aus dem Wortlaut kann ich jedenfalls nichts herauslesen. Greift man diesbezüglich auf das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 II GG zurück?
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Re: Verwerfungskompetenz des Verwaltungsgerichts

Beitrag von jona7317 »

Ja, das steht nirgendswo explizit und folgt auch nicht aus Art. 100 I GG.
Dass eine Norm soweit sie im Widerspruch zu einer ranghöheren Norm steht nicht zur Anwendung kommen darf ist ja eigentlich selbstverständlich. Ich denke, dass sich das schon aus dem Rechtsstaatprinzip ergibt.
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Re: Verwerfungskompetenz des Verwaltungsgerichts

Beitrag von Brainiac »

JEE hat geschrieben: Mittwoch 15. März 2023, 00:03 Super danke. Allerdings daraus, dass Art. 100 I GG nur formelle nachkonstitutionelle Gesetze erfasst ergibt sich doch nicht unmittelbar oder nur mittelbar, dass das VG die materielle Gesetze unangewendet lassen kann. Aus dem Wortlaut kann ich jedenfalls nichts herauslesen. Greift man diesbezüglich auf das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 II GG zurück?
Naja, die Nichtanwendungskompetenz ergibt sich aus einem Gegenschluss zu Art. 100 I GG. Nur bzgl. formeller Gesetze ist die Pflicht zur Verfahrensaussetzung und Vorlage an das BVerfG geregelt, dem danach insofern ein Verwerfungsmonopol zukommt. Für alle anderen Rechtsnormen ist das Gericht e contrario zu einer eigenen Entscheidung befugt. Das kann man ergänzend auch aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) herleiten, ja.
"In a real sense, we are what we quote." - Geoffrey O'Brien
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