Einordnung der Vorschrift?

Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht sowie Zivilprozeßrecht

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Schnitte
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Re: Einordnung der Vorschrift?

Beitrag von Schnitte »

FKN993 hat geschrieben: Sonntag 8. Juni 2025, 13:49 Meine Idee, dass man das Konzept von Bahnsteigsperren digital umsetzte. Ein Check-in/Check-out-System an Bahnhöfen/Zügen. Und so könnte man auch ein dynamisches Preis- und Bezahlsystem entwickeln (also Preis richtet sich dann nach Fahrstrecken oder Zonenpreisen).

Meine Idealvorstellung wäre, dass man gar keine Fahrkarte mehr bräuchte und beispielsweise z.B. Fingerabdrucktechnik nutzt: Der Fingerabdruck - konkludente Zustimmung - dient dann als Verifizierungsschlüssel, um verschlüsselt hinterlegte personenbezogene Daten abzurufen. Wäre das nicht umsetzbar?
Ich kenne London ein bisschen näher, und meines Erachtens ist das dortige Oyster-System schon recht nah an einem theoretischen Idealmodell für Ticketing im ÖPNV dran. Um es mal kurz zu umschreiben: Es hat Bahnsteigsperren am Eingang ebenso wie am Ausgang der Stationen. Die Sperren sind mit kontaktlosen Kartenlesern ausgestattet und öffnen sich, wenn eine Bezahlkarte rangehalten wird. Als solche lässt sich eine große Vielzahl an Karten verwenden: Es gibt aufladbare Oyser-Karten, wo man an Automaten oder online Guthaben draufladen kann, und je nach gefahrener Distanz (das System weiß ja, welche Strecke man gefahren ist, weil die Karte bei Ein- und Ausstieg gelesen wird) wird der jeweilige Preis abgebucht. Man kann sich die separate Oyster-Karte aber auch sparen und einfach eine marktübliche Kredit- oder Debitkarte oder das Handy mit Apple Pay usw. ranhalten. Dann wird einfach über diese Karte oder das Apple Wallet der jeweilige Fahrpreis abgerechnet. Dazu gibt es ein "daily cap", also einen Maximalpreis, der (jedenfalls in den inneren Zonen) pro Tag abgerechnet wird - wenn dieses cap erreicht wird, hört das System für den Rest des Tages auf, weitere Beträge abzurechnen. Im Ergebnis hat man also eine Tageskarte, ohne dass man sich bereits bei der ersten Fahrt Gedanken machen müsste, ob man eine Tageskarte oder lieber eine Einzelfahrkarte kaufen müsste. Zusätzlich gibt es Fahrkartenkontrollen in den Zügen, allerdings sehr sporadisch. Im Fall einer solchen Kontrolle hat der Kontrolleur ein Lesegerät dabei, mit dem er nachprüfen kann, ob die Karte, die der Fahrgast vorzeigt, beim Betreten der Station eingelesen wurde.

(In manchen Verkehrsmitteln, z.B. in der DLR - einer Art Vorort-S-Bahn im Osten Londons - sind diese Kontrollen häufiger, weil die DLR aus mir nicht bekannten Gründen keine Bahnsteigsperren hat - es sind aber in jeder Station Kartenleser vorhanden, und man muss trotzdem bei Fahrtbeginn und Fahrtende die Karte auslesen lassen. Im Bus achtet der Fahrer darauf, dass der Fahrgast beim Einsteigen eine gültige Karte präsentiert, was das Lesegerät mit einem deultichen Pieps bestätigt.)

Es ist wirklich ein sehr effizientes und praktisches System, das dem Benutzer das Nachdenken weitgehend abnimmt - man hält einfach die Karte (oder das Handy, oder die Smartwatch...) beim Betreten und Verlassen ans Lesegerät und muss sich über Fahrpreise und Tageskarten keine weiteren Gedanken mehr machen. Das geht für Einheimische ebenso wie für Touristen, denn eine Oyster-taugliche Bezahlkarte hat ja heute wirklich jeder. Auch in puncto Datenschutz ist es nicht so übel, wenn man ein digitales Wallet (Apple Pay, Google Pay...) verwendet, weil die ja dem Kartenleser für jede Transaktion eine ad hoc generierte einmalige ID mitteilen, ohne dass der Kartenleser Daten über das dahinterstehende Konto erhalten würde.
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FKN993
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Re: Einordnung der Vorschrift?

Beitrag von FKN993 »

Schnitte hat geschrieben: Dienstag 10. Juni 2025, 12:33
Also das Londoner System (auch in Paris, New York) ist eigentlich in mehreren Hinsichten besser: Habe die Zahlen der Berliner Verkehrsbetriebe mal zugrunde gelegt und mit den Quoten Londons verglichen. In Berlin belaufen sich die Verluste jährlich auf circa 200 Millionen, wenn die notwendigen Personalkosten einbezogen werden. Die Verluste durch Schwarzfahrer betragen davon circa 170 Millionen. Das Intervall liegt zwischen 5-7 %. In London liegt die Quote <1 %. Die Bahnsteigsperre verhindert damit nicht alles, aber die Zahl ist auch teilweise wohl darauf zurückführbar, dass das Tarifsystem als solches angeblich zu kompliziert wäre. Die Zahl ist dennoch erstaunlich, wenn berücksichtigt wird, dass London ungefähr 2,5-mal so viele Einwohner hat. Zugleich werden durch das EBE keine Gewinne erzielt. Die Personalkosten entsprechen ungefähr den Einnahmen. Das heißt, dass der eingesetzte Personalkostenaufwand zur systembedingten notwendigen Bedingung wird, um weitere Verluste durch den Abschreckungseffekt einzudämmen.

Der isolierte wirtschaftliche Einwand, dass die Umstellung angeblich zu teuer wäre, die Überlegung gibts, überzeugt auch nicht ganz. Jedes große Bauvorhaben ist naturgemäß mit Kosten verbunden und keines amortisiert sich sofort. Das könnte man aber ungefähr in zehn bis fünfzehn Jahren schaffen. Das würde sich tatsächlich rechnen können.

Dann wird noch mit dem Baurecht teils dagegen argumentiert und gemeint, dass das ja angeblich an manchen Bahnhöfen aus Denkmalschutzgründen teilweise nicht ginge. Das sind aber Einzelfälle und nun geht es ja nicht absolut darum, dass gar kein Kontrollpersonalbedarf mehr bestehen soll. Das ist ja auch nicht das Ziel.

Also es gibt eigentlich wenige Argumente, die wirklich gegen die Bahnsteigsperre sprechen.

Und jetzt kommt ein sehr starkes Argument, was für die Bahnsteigsperre streitet: Laut Uni Köln landen im Jahr in DE ungefähr 9000 Menschen wegen § 265a StGB im Knast. Also die wahrlichen Intensivstraftäter in diesem Zusammenhang. Wenn jetzt ein Hafttag pro Nase ungefähr 110 € kostet, dann kann man sich damit ungefähr klarmachen, was das die öffentliche Hand und damit den Steuerzahler kostet. Hinzukommen noch die Kosten und die Ressourcenbindung der Justiz für die Verfolgung dieser Schwerstkriminalität. Und abschließend noch: Finde interessant, dass § 265a I 3. Var. StGB im Grunde einer der ganz wenigen Tatbestände ist, die man mit dem bezeichneten Verhalten erst mehrfach erfüllen muss, um überhaupt die Verhältnismäßigkeitsschwelle zu überschreiten, sodass eine Freiheitsstrafe verhängt werden kann. Und noch spannender: Wenn die Gewährung des ÖPNV aber zur Daseinsfürsorge gehört, dann gehört es sogar zum Schutzbereich oder Leistungsumfangs des Grundrechts auf Gewährung eines Existenzminimums. Abstrakt gesehen werden damit diejenigen inhaftiert, die im Grunde tatsächlich viel schutzwürdiger sind, weil sie eben offensichtlich zu wenig Geld haben. Nun war ich eigentlich mal FDPler, aber das finde ich irgendwie schon spannend.

Ergebnis: Der Status quo verursacht mehr Kosten, mehr Repression, mehr soziale Ungerechtigkeit und das in einem Bereich, der zur Daseinsfürsorge zählt. Ist das denn wirklich so "lebensfremd"?
Zuletzt geändert von FKN993 am Mittwoch 11. Juni 2025, 11:31, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Einordnung der Vorschrift?

Beitrag von Gürteltier »

FKN993 hat geschrieben: Dienstag 10. Juni 2025, 17:59 Das Intervall liegt zwischen 5-7%. In London liegt die Quote >1 %.
5-7% sind auch >1 % - so wie es dasteht, ist diese Aussage schlicht nichtssagend. Meinst du <1 %?

(Immer an das Krokodil denken, dass die größere Zahl/Menge fressen will!)
FKN993 hat geschrieben: Dienstag 10. Juni 2025, 17:59

Die Zahl ist dennoch erstaunlich, wenn berücksichtigt wird, dass London ungefähr 2,5-mal so viele Einwohner hat.
Die relative Zahl ist erstaunlich, weil London um den Faktor x mehr Einwohner hat? Das müsste man mir mal erklären.

Das ist alles nah am Zahlen-Vodoo.
FKN993 hat geschrieben: Dienstag 10. Juni 2025, 17:59
Ergebnis: Der Status quo verursacht mehr Kosten, mehr Repression, mehr soziale Ungerechtigkeit und das in einem Bereich, der zur Daseinsfürsorge zählt. Ist das denn wirklich so "lebensfremd"?
Welche Repressionen erfahre ich denn als typischer BVG-Kunde? Also außer vielleicht die anderen Fahrgäste.
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Re: Einordnung der Vorschrift?

Beitrag von FKN993 »

Gürteltier hat geschrieben: Dienstag 10. Juni 2025, 20:04
FKN993 hat geschrieben: Dienstag 10. Juni 2025, 17:59 Das Intervall liegt zwischen 5-7%. In London liegt die Quote >1 %.
5-7% sind auch >1 % - so wie es dasteht, ist diese Aussage schlicht nichtssagend. Meinst du <1 %?

(Immer an das Krokodil denken, dass die größere Zahl/Menge fressen will!)
FKN993 hat geschrieben: Dienstag 10. Juni 2025, 17:59

Die Zahl ist dennoch erstaunlich, wenn berücksichtigt wird, dass London ungefähr 2,5-mal so viele Einwohner hat.
Die relative Zahl ist erstaunlich, weil London um den Faktor x mehr Einwohner hat? Das müsste man mir mal erklären.

Das ist alles nah am Zahlen-Vodoo.
FKN993 hat geschrieben: Dienstag 10. Juni 2025, 17:59
Ergebnis: Der Status quo verursacht mehr Kosten, mehr Repression, mehr soziale Ungerechtigkeit und das in einem Bereich, der zur Daseinsfürsorge zählt. Ist das denn wirklich so "lebensfremd"?
Welche Repressionen erfahre ich denn als typischer BVG-Kunde? Also außer vielleicht die anderen Fahrgäste.
Hast du auch etwas mehr zum Thema beizutragen? Persönlich mag ich es ja, wenn Antworten in diesem Aufriss kommen-
Sag nur so viel: Du kannst dir sicher sein, dass ich mich jetzt nicht nur fünf Minuten mit dem Gedöns auseinandergesetzt habe und genauso wie du habe ich jetzt keine Statistikvorlesung besucht, dessen bin ich mir schon bewusst, aber du kannst ja gern mal die Argumente gegen ein solches System bringen. Um die Frage geht es ja letztlich erkennbar auch.

Achja? Ein Ticket in die humorbefreite Zone wollte ich jetzt nicht buchen- Aber wem sage ich das nur?

Aber nur aus Interesse: Was ist denn teurer? Mit Bahnsteigsperre oder ohne?
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Re: Einordnung der Vorschrift?

Beitrag von Schnitte »

Mir wäre ein kontaktloses und smartphonetaugliches System mit Bahnsteigsperren wie Oyster aus London oder Navigo aus Paris lieber als das gegenwärtige deutsche Ticketing-System, das ich wirklich für antiquiert und den ehrlichen Fahrgästen gegenüber unfair halte aber unter den gegebenen Umständen (insbesondere der Entscheidung gegen Bahnsteigsperren) das Vorgehen der Verkehrsbetriebe gegen Schwarzfahrer für gerechtfertigt und keineswegs repressiv. Der Verkehrsbetrieb muss halt nun einmal eine Möglichkeit haben, die Entgeltpflicht durchzusetzen, und wenn jemand ohne Ticket fährt, dann liegt das Fehlverhalten bei demjenigen und nicht bei dem Verkehrsbetrieb. Aus Schlagworten wie "Daseinsvorsorge" und "Existenzminimum" ein Grundrecht auf konsequenzloses Schwarzfahren abzuleiten, halte ich für abwegig und eines liberalen Staates für unwürdig.
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Re: Einordnung der Vorschrift?

Beitrag von FKN993 »

Aber Schnitte das tue ich ja gar nicht.

Gehöre zu denen, die vertreten, dass das Bestimmtheitsgebot verletzt ist. Da bin ich auch nicht der einzige, der das so sieht. Der Schutzzweck, die Vermeidung einer nicht gebotenen Strafverfolgung, ist aber gedanklich keine Einbahnstraße. Zwar hat das BVerfG das anders gesehen, aber auch darüber kann man letztlich streiten. Das finde ich aber gar nicht entscheidend. Denke, dass es unstrittig ist, dass es sich um ein Bagatelldelikt handelt. Das zeigt sich schon daran, dass es einst eine bloße Ordnungswidrigkeit war. Viel entscheidender ist aber die Frage, ob die Strafverhängung noch mit dem ultima-ratio-Prinzip in Einklang zu bringen ist. Das bedeutet ja nicht nur, dass das Strafrecht das letzte Mittel sein muss, um Rechtsgüterschutz und damit Rechtsfrieden gewährleisten zu können, sondern auch, dass die Verhängung einer Strafe, nicht Sanktion, verhältnismäßig ist. Das ist sicher eine Wertungsfrage. Mir fallen aber wenige Tatbestände ein, die in Sachen Unrechtsgehalt für sich betrachtet - normativ betrachtet - limitiert sind. Erst die mehrfache Begehung rechtfertigt, wenn überhaupt, eine Freiheitsstrafe. Ein Betrug kann für sich genommen bereits so schwerwiegend sein, dass eine Freiheitsstrafe unproblematisch gerechtfertigt sein kann. Das trifft auf eine einzelne Busfahrt ohne Fahrschein aber nicht zu. Wie viele dieser Busfahrten soll es denn brauchen, damit eine Freiheitsstrafe dann gerechtfertigt sein soll? Drei oder fünf? Am Ende des Tages wird eine Freiheitsstrafe deswegen verhängt, weil es doch am Geld fehlt. Es sind also minderbemittelte Personen.

Zu dieser Wertung:
Und das Recht auf Gewährung eines Existenzminimums, ein Rahmengrundrecht abgeleitet aus Art. 1 I GG i.V.m. Art. 20 I GG, gehört, dass der Einzelne als "sozial"gebundenes Individuum ein "menschenwürdiges Dasein" vom Staat auch "materiell" beanspruchen kann (vgl. Dreier GG/Wapler GG Art. 1 Abs. 1 Rn. 69). Und im Sinne des objektiven Grundrechtsschutzes gedacht, ist es nur konsequent, wenn die objektive Gewährleistung der Mobilität eben als Teil dieses Leistungsumfangs verstanden wird, um dem Einzelnen diesen Teilhabeanspruch und damit diese Würde zu ermöglichen. Das steht unstrittig jedem zu.

Um zu verstehen, was ich nun meinte, muss das damit im Zusammenhang gelesen werden, warum ich zugegeben etwas übertrieben von Repression gesprochen habe, wenn dieses Bagatellunrechts wegen aber 9000 Menschen jährlich ins Gefängnis gehen. Strafe ist nach der herrschenden Vereinigungstheorie, so wie es das BVerfG versteht, immer Repression und zugleich auch Prävention. Das BVerfG stellte auch fest, dass eine Strafverhängung ohne Beachtung der "individuellen Schuld", des persönlichen Unrechts also wegen, mit der Menschenwürde nicht vereinbar sei. Welcher Strafzweck funktioniert hier aber eigentlich noch? Das ist aber keine Kriminalität im Nagelstreifen, sondern solche begangen von Menschen deretwegen man dieses obige Grundrecht überhaupt erst entwickelt hat. Wertungstechnisch sind die aber aus meiner Sicht schutzwürdiger, wenn man das irgendwie ernst nimmt. Dass aber generelle Strafandrohung auch nur irgendwas verändert hat, glaube ich nicht. Dass konkret im Einzelfall mit einer Freiheitsstrafe hier irgendwas positiv bewirkt wird, erkenne ich nicht. Strafe ist dogmatisch verstanden, nach meinem Verständnis, aber kein Selbstzweck. Weder erkenne ich, dass damit auch nur irgendwie Rechtsgüterschutz gewährleistet wird und von Resozialisierung kann hier auch keine Rede sein. Konkret trifft die Strafverhängung damit diejenigen, die ohnehin wertungstechnisch "mehr" auf diese Mobilität angewiesen sind. Denke aber, dass es die Situation individuell sogar eher verschlimmert als irgendwie bessert.

Das kann man freilich anders sein, z.B. mit Jakobs, der im Kern davon ausgeht, dass Strafverfolgung auch eine innere Notwendigkeit wäre, um sozialen Frieden, Vertrauen in die Rechtsordnung zu gewährleisten. Er sagt nämlich, dass der Täter mit der Begehung des Unrechts die Geltung der Norm desavouierte und damit einen sozialen Konflikt auslöste. Das Prinzip der für alle geltenden Normtreue würde verletzt und deswegen müsste der Staat strafen. Das sehe ich hier nun wirklich nicht, eher das Gegenteil, wenn eigentlich seit Bestehen dieses Tatbestandes der Unrechtsgehalt schon stark umstritten ist. Es hat denke ich schon seinen Grund, warum zumindest die Literatur das Erschleichen sehr restriktiv auslegt. Um den Schutz von "privaten Rechten" aus dem Beförderungsvertrag geht es aber eigentlich nicht im Strafrecht. Deswegen wird auch § 127 I StPO von vielen in diesem Zusammenhang als unanwendbar gesehen.

Und ja, dass die Rechte aus dem Beförderungsvertrag durchgesetzt werden sollen und auch müssen, das bezweifle ich auch grundsätzlich nicht. Das habe ich auch nie.

Aber warum ist das für einen liberalen Staat unwürdig (Sogar Buschmann wollte den Tatbestand ersatzlos streichen)?

Hegel hat zu einem rein präventiven Strafverständnis gesagt, wenn die Strafe nur an eine vom Unrecht unabhängige Zweckmäßigkeit gebunden wäre, dass das dann aber so wäre, als würde gegenüber einem Hund der Stock erhoben. Für mich trifft das hier zu, weil ich das Unrecht als solches schon gar nicht als gerechtfertigt ansehe. Es trifft die ohnehin schwächeren der Gesellschaft. Und Hegel war ja nun auch Liberaler. Also natürlich stelle ich diese Täter nicht mit Hunden gleich, nicht dass mich irgendein Tier gleich noch von der Seite anspringt, aber irgendwie finde ich das schon.
Zuletzt geändert von FKN993 am Donnerstag 12. Juni 2025, 19:07, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Einordnung der Vorschrift?

Beitrag von Gürteltier »

Folgender Beitrag ist übrigens kein Rage bait:

Ich mag das deutsche System. Ich laufe gerne frei durch die Bahnhöfe und über Bahnsteige. Das ist ein bisschen deutsches Lebensgefühl. Das kann man sich eventuell auch mal etwas kosten lassen (wenn wir schon mit dem Dienstwagenprivileg Gott weiß was subventionieren).

Meinetwegen kann ich aber die Karte/das Handy irgendwo dran halten. Das ist ja letztlich kein großes Ding. Dass sowas nachzurüsten aber auch Unmengen an Geld kostet, ist aber wohl klar.

Und ich glaube auch, dass viele, die sich kein Ticket kaufen, es sich oftmals auch einfach nicht *wirklich* leisten können. (Als Schüler konnte ich mir z.B. schon ein Ticket kaufen - das war aber trotzdem viel Geld für mich und dann habe ich das manchmal eben nicht gemacht. Mittlerweile hab ich natürlich immer ein Ticket, weil ich es mir ohne Probleme leisten kann und will, v.a. mit dem D-Ticket.)

Man kann natürlich sagen, dass jeder Schwarzfahrer ein Sozialschädling ist. Das ist mir aber zu unterkomplex.

Prospektiv sollte der ÖPNV ohnehin für jeden kostenlos nutzbar sein. (Oh nein, das hat er jetzt nicht gesagt!)
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Re: Einordnung der Vorschrift?

Beitrag von Schnitte »

Strohmann-Argumente wie "Sozialschädling" bringen uns hier ebensowenig weiter wie angesagte Buzzwords à la "unterkomplex". Die Lage ist doch so: Öffentlicher Nahverkehr ist keine Leistung, die wie Manna vom Himmel fällt, sondern die mit Kosten in Form von Arbeitskraft und Material verbunden ist. Diese Kosten müssen irgendwie gedeckt werden, und das traditionelle Mittel hierzu sind Fahrpreise. Wer die Leistung in Anspruch nimmt, ohne den Fahrpreis zu bezahlen, der bricht das Recht und nimmt sich etwas, das ihm nicht zusteht. Darauf hat die Rechtsordnung legitimerweise zu reagieren. Das macht den Sachverhalt nicht zum Kapitalverbrechen, es aber gänzlich zu ignorieren, wäre auch nicht richtig - das tun wir bei anderen Dingen wie Ladendiebstahl, Zechprellerei in der Gastronomie oder Tankstellendiebstahl auch nicht, auch nicht mit dem sozialromantischen Argument, dass der Täter sich die Leistung eben nun leider nicht leisten könne. Wer "kostenfreien" ÖPNV will, der kann das natürlich politisch fordern; der Anstand gebietet es aber, das dann sauber zu diskutieren, wozu auch gehört, den damit verbundenen Preis, den dann der Steuerzahler anstelle des Fahrgasts zu stemmen hat, klar anzusprechen und ihn nicht in irgendwelchen Schattenhaushalten oder "Sondervermögen" zu verstecken.
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Re: Einordnung der Vorschrift?

Beitrag von FKN993 »

Vielleicht könnte man ja zumindest die Kosten einsparen, und das wäre gar nicht so wenig, die mittelbar dadurch entstehen, dass die Justiz, die ohnehin zu viel Zeit hat, sich mit dem Kram befassen muss.

Lösung, die eigentlich gar nicht meiner Denkrichtung entspricht: Wie wäre es denn mit einem Ticket namens Sozialtransferleistungsempfängernahverkehrdauerberechtigungsfahrausweis?

Wenn es das gäbe, könnte die Zahl vielleicht erheblich gesenkt werden? Vielleicht könnte das sogar die Bahnsteigsperre lösungstechnisch umgehen. Jedenfalls bräuchte man dann keine Bordkartenabrisskoordinatoren mehr.

Weiß auch nicht. Warum muss immer alles so kompliziert gemacht werden?
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Re: Einordnung der Vorschrift?

Beitrag von Gürteltier »

FKN993 hat geschrieben: Donnerstag 12. Juni 2025, 19:18
Lösung, die eigentlich gar nicht meiner Denkrichtung entspricht: Wie wäre es denn mit einem Ticket namens Sozialtransferleistungsempfängernahverkehrdauerberechtigungsfahrausweis?
Das geht sogar ohne ironisch-herabwürdigenden extra langem Witznamen - gibt es teilweise als Sozialticket in manchen Kommunen, scheitert aber oft an der Kostenübernahme, da es de lege lata meinem Verständnis nach eine freiwillige kommunale Aufgabe ist. Tatsächlich m.E. durchaus ein problematischer Aspekt - Teilhabe am Leben als Ausdruck des menschenwürdigen Existenzminimums umfasst auch eine gewisse Mobilität. (Ich weiß, Kommunismus.)

Ein durchaus beträchtlicher Teil der Schwarzfahrer sich afaik auch ohnehin Obdachlose usw., da wird man so oder so nichts holen.

Dass das System finanziert sein muss, ist ja klar, oder? Niemand will einen ÖPNV, der so schlecht finanziert ist, dass nichts mehr geht (oder man ihn nicht mehr nutzen will).

Das Ziel teilen wir ja alle hier, glaube ich. Ich nutze den Bumms ja ausschließlich.
Schnitte hat geschrieben: Donnerstag 12. Juni 2025, 18:15 (…) der Anstand gebietet es aber, das dann sauber zu diskutieren, wozu auch gehört, den damit verbundenen Preis, den dann der Steuerzahler anstelle des Fahrgasts zu stemmen hat, klar anzusprechen und ihn nicht in irgendwelchen Schattenhaushalten oder "Sondervermögen" zu verstecken.
Ganz so unanständig war ich dann ja doch nicht, ich habe ja ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es etwas kostet. Dass das “der Steuerzahler” (von dem ich pars pro toto übrigens Teil bin) das bezahlen muss, war jetzt doch irgendwie auch klar, oder? Soll ich noch spezifische haushaltärische Reformvorschläge machen, welchen Teil genau Bund, Länder und Kommunen jeweils anteilig von den von mir zu approximierenden Mehrkosten zu tragen haben? (Anstöße dazu hätte ich btw.) Ist das dann anständig? Oder klopft der Strohmann auch hier an (“die schwäbische Hausfrau”).

Es ist einfach eine Richtungsentscheidung. Man mag es, oder eben nicht.
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Re: Einordnung der Vorschrift?

Beitrag von FKN993 »

Um dein „deutsches Lebensgefühl“ nebenbei zu spiegeln: Ich mag diese ellenlangen Komposita eben. Möchte später deswegen auch mal einen gemeinnützigen Verein gründen. Damit sie nicht das gleiche Schicksal wie Gürteltiere erleiden. Kein Wunder, dass die evolutionsbedingt eine Panzerung entwickelt haben. Die haben diese Widerstände von diesen - in deinem Sprachgebrauch ja noch vorkommenden - „Sozialschädlingen“ gespürt?

Ganz nebenbei finde ich es ja etwas pedantisch von dir, wenn du darin jetzt eine Herabwürdigung lesen willst. Grundsätzlich mache ich mich ja selbst nicht zum Maßstab, das können andere in unserem Verein ohnehin deutlich besser, vermutlich auch so eine Art Überlebensstrategie, um den Rest der Welt um den Schreibtisch herum auch zu erreichen, aber meine Wenigkeit findet ja, dass ich mich durchaus mit meinen Äußerungen eben für ein ihnen genauso gebührendes Leben in Würde einsetze. Also das ist doch das Gegenteil einer Herabwürdigung, oder? Außerdem halte ich noch was von meiner Kirche und versuche deswegen nicht abzuheben oder eine Selbstintegrität wie Gregor Gysi zu entwickeln. Wollte ich nur mal gesagt haben.
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Re: Einordnung der Vorschrift?

Beitrag von thh »

Schnitte hat geschrieben: Donnerstag 12. Juni 2025, 18:15das tun wir bei anderen Dingen wie Ladendiebstahl, Zechprellerei in der Gastronomie oder Tankstellendiebstahl auch nicht, auch nicht mit dem sozialromantischen Argument, dass der Täter sich die Leistung eben nun leider nicht leisten könne.
Wart's nur ab, Henry Higgins, wart's nur ab.
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Re: Einordnung der Vorschrift?

Beitrag von Gürteltier »

Also unterhaltsam bleibt's auf jeden Fall.

Wir halten fest: Ich fordere - de lege ferenda - die Anarchie.

Was das jetzt aber mit einem SED-Vorsitzenden zu tun hat, weiß ich nicht so genau.
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Re: Einordnung der Vorschrift?

Beitrag von FKN993 »

Gürteltier hat geschrieben: Freitag 13. Juni 2025, 21:45 Also unterhaltsam bleibt's auf jeden Fall.

Wir halten fest: Ich fordere - de lege ferenda - die Anarchie.

Was das jetzt aber mit einem SED-Vorsitzenden zu tun hat, weiß ich nicht so genau.
Gürteltier? Eine Frage habe ich noch:
Sind Gürteltiere eigentlich diese Tiere, die sich im wässernden Spiegelbild erst selbst erkennen?
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Re: Einordnung der Vorschrift?

Beitrag von Gürteltier »

Ist das jetzt schon ad hominem?
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