Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit
Die "Idee der Rechtskraft" ist doch kein absolutes Prinzip, das sich in jedem Einzelfall gegen alle kollidierenden Interessen durchzusetzen hätte, weder einfachgesetzlich (Existenz des § 362 StPO) noch verfassungsrechtlich, wenn man unterstellt (was m.E. naheliegt), dass Art. 103 Abs. 3 GG einschränkbar ist.
- Ara
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit
Die "Idee" [!] der Rechtskraft ist denke ich schon ein absolutes Prinzip. Die Frage ist aber natürlich ab wann du Rechtskraft entstehen lässt und wann sie durchbrochen werden kann. Eine Strafrechtspflege gänzlich ohne Rechtskraft ist aber zum Beispiel schwer vorstellbar, da sie ihren Zweck der Konfliktverarbeitung nicht mehr erfüllen kann, wenn der Konflikt nicht irgendwann endgültig beendet wird.OJ1988 hat geschrieben: ↑Dienstag 29. Juni 2021, 20:31 Die "Idee der Rechtskraft" ist doch kein absolutes Prinzip, das sich in jedem Einzelfall gegen alle kollidierenden Interessen durchzusetzen hätte, weder einfachgesetzlich (Existenz des § 362 StPO) noch verfassungsrechtlich, wenn man unterstellt (was m.E. naheliegt), dass Art. 103 Abs. 3 GG einschränkbar ist.
Man muss sich halt vom Gedanken lösen, dass "Gerechtigkeit" tatsächlich wesentlich zur Konfliktverarbeitung beiträgt. Es wären ja auch völlig andere Systeme denkbar. Zum Beispiel Täter und Opfer treffen sich auf ein Pistolenduell (siehe Wilder Westen). Beide schießen aufeinander, in der Regel verfehlen sich beide und danach ist die Sache geklärt. Man könnte theoretisch auch in nem Zivilverfahren zum Beispiel eine Münze werfen. Gerecht wäre das vermutlich nicht, wenn aber alle den Münzwurf akzeptieren, würde man damit eine Konfliktverarbeitung erreichen. Es darf halt nicht zu offensichtlich ungerecht werden, weil die Bevölkerung dann das System nicht mehr akzeptieren. Das ist ja auch Kernidee der bisherigen Wiederaufnahmegründe.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit
Ich hab nach den ersten beiden Sätzen aufgehört zu lesen, weil du offenbar mein Argument bzw den Ausdruck „absolut“ in diesem Zusammenhang nicht verstehst.Ara hat geschrieben: ↑Dienstag 29. Juni 2021, 23:02Die "Idee" [!] der Rechtskraft ist denke ich schon ein absolutes Prinzip. Die Frage ist aber natürlich ab wann du Rechtskraft entstehen lässt und wann sie durchbrochen werden kann. Eine Strafrechtspflege gänzlich ohne Rechtskraft ist aber zum Beispiel schwer vorstellbar, da sie ihren Zweck der Konfliktverarbeitung nicht mehr erfüllen kann, wenn der Konflikt nicht irgendwann endgültig beendet wird.OJ1988 hat geschrieben: ↑Dienstag 29. Juni 2021, 20:31 Die "Idee der Rechtskraft" ist doch kein absolutes Prinzip, das sich in jedem Einzelfall gegen alle kollidierenden Interessen durchzusetzen hätte, weder einfachgesetzlich (Existenz des § 362 StPO) noch verfassungsrechtlich, wenn man unterstellt (was m.E. naheliegt), dass Art. 103 Abs. 3 GG einschränkbar ist.
Man muss sich halt vom Gedanken lösen, dass "Gerechtigkeit" tatsächlich wesentlich zur Konfliktverarbeitung beiträgt. Es wären ja auch völlig andere Systeme denkbar. Zum Beispiel Täter und Opfer treffen sich auf ein Pistolenduell (siehe Wilder Westen). Beide schießen aufeinander, in der Regel verfehlen sich beide und danach ist die Sache geklärt. Man könnte theoretisch auch in nem Zivilverfahren zum Beispiel eine Münze werfen. Gerecht wäre das vermutlich nicht, wenn aber alle den Münzwurf akzeptieren, würde man damit eine Konfliktverarbeitung erreichen. Es darf halt nicht zu offensichtlich ungerecht werden, weil die Bevölkerung dann das System nicht mehr akzeptieren. Das ist ja auch Kernidee der bisherigen Wiederaufnahmegründe.
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit
Und ein hervorragendes Argument für das jetzige Gesetzgebungsverfahren.
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit
Richtig. Aber das ist ja offenbar strittig unter den Leuten, die sich da mehr Gedanken als wir drum gemacht haben.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit
Es soll Leute geben, die eine Verurteilung für einen Abschluß brauchen. Offensichtlich auch nach 40 Jahren, in denen die Betroffenen damit nicht abschließen konnten.Ara hat geschrieben: ↑Montag 28. Juni 2021, 22:44 Genau so kann man aber doch sagen, das ist ein gutes Beispiel warum man solche erledigte Konflikte ruhen lassen soll. Was bringt es einem denn? Ich garantiere dir, dem Vater würde es deutlich besser gehen, wenn er mit dem Vorfall abschließen würde. Was bringt denn eine Verurteilung nach über 40 Jahren?
Du kannst das schon im Kindergarten wunderbar sehen: A hat mich gehauen, B heult. Oft endet das Heulen von B, wenn A geschimpft wird und A und B spielen miteinander weiter. Das Zur-Rechenschaft-Ziehen ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Dieses zu erfüllen ist Aufgabe des gesamten Rechts, auch des Strafrechts. Reine staatsbezogene Begründungen, warum es das Strafrecht gibt, verkennen diese Problematik vollständig.
Hieraus entstehen dann so kuriose Konstruktionen wie das "Strafverfolgungsinteresse des Staates". Das wirkliche Interesse daran ist faktisch wohl nicht besonders ausgeprägt. Jedenfalls rügt das BVerfG schon fast in ständiger Rechtsprechung die schlechte Ausstattung von Staatsanwaltschaften und Gerichten. Das macht die Begründung nicht unbedingt glaubwürdig....
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit
Mit Heulen im Kindergarten und der Befriedigung vermeintlicher Grundbedürfnisse kommt man immerhin dem argumentativen Ansatz des Gesetzentwurfs näher.
- Ara
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit
Das ist albern.
Recht ist kein Selbstzweck. Recht erfüllt notwendige Funktionen. Eine Auflistung findet sich beispielsweise in der (nicht juristischen, aber deswegen auch nicht gesetzlosen) Wikipedia, Begriff Recht, dort unter Funktionen. Sozialer Frieden als Stichwort...
Gruß aus dem Urlaub
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit
Aber auch auf Wikipedia-Niveau und bei Aneinandereihung von Stichworten sollte klar sein, dass auch das Prinzip der Rechtskraft und der Grundsatz ne bis in idem eine Funktion haben.
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit
Richtig. Wie jeder Grundsatz muss es aber auch hier Grenzen bzw. Ausnahmen geben. Wo die konkret liegen, darüber kann man streiten. Über die Notwendigkeit dafür nicht.
Mit Ausnahme von Art. 1 GG kenne ich im deutschen Recht kein einziges wirklich absolutes Gesetz.
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit
Natürlich kann man über die Notwendigkeit von Grenzen/Ausnahmen zu solchen Grundsätzen streiten.
Ich sehe diese zwar z.B. bei "ne bis in idem" gerade noch so im Rahmen der aktuell existierenden Wiederaufnahmegründe - bei welchem das Verfahren vorsätzlich manipuliert wurde oder der Angeklagte nachträglich selbst gesteht - bei der Verjährung halte ich jedoch in naher Zukunft jede Ausnahme für unbegründet.
Die Unverjährbarkeit des Mordes wurde aus historischen Gründen geschaffen, welche sich aktuell auf ganz natürliche Weise erledigen. Anschließend ist auch an dieser Stelle mE keine Ausnahme mehr nötig, da ich (die bekannte Ausnahme lassen wir außen vor) wenig Sinn darin sehe einen Täter der z.B. 40 Jahre nach der Tat unauffällig geblieben ist anschließend noch mit Ende 80 zu verurteilen.
- batman
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit
Genau darum geht es doch, d.h. ob vermeintliche Unerträglichkeiten und Ungerechtigkeiten eine Ausnahme rechtfertigen.
NB: Der Gesetzentwurf wurde zwischenzeitlich im BT mit den Stimmen der Regierungsfraktionen und der AfD beschlossen.
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit
Du hattest von "vermeintlichen" Grundbedürfnissen gesprochen, was eine gewisse Wertung enthält. Wenn es für dich im Bereich des möglichen ist, dass die Ausnahmen gerechtfertigt sind, dann bin ich ja schon zufrieden.