Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Straf-, Strafprozeß- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie Kriminologie

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Strich
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Strich »

thh hat geschrieben: Donnerstag 2. November 2023, 22:33
Ara hat geschrieben: Dienstag 31. Oktober 2023, 22:58Möglicherweise ist das Problem, dass die gesamte Wiederaufnahme zu Ungunsten des Beschuldigten ein Problem darstellt, wenn Art. 103 Abs. 3 GG tatsächlich als abwägungsfest angesehen wird.
Man könnte auch die Wiederaufnahme insgesamt abschaffen. Rechtskraft ist Rechtskraft, das ist wichtig.
Naja, die Gründe, die in der Sphäre des Angeklagten liegen, kann man schon noch lassen.
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Schnitte
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Schnitte »

Die sehr weite Interpretation des Double-Jeopardy-Grundsatzes im amerikanischen Recht hat uns immerhin Dinge wie den gleichnamigen Film mit Tommy Lee Jones eingebracht. Das zeigt, wie stark verwurzelt das Prinzip im kollektiven amerikanischen Bewusstsein ist (auch wenn es, wie in dem Film, nicht immer richtig verstanden und dargestellt wird). Da bleibt das europäische ne bis in idem sowohl von seiner Reichweite als auch von seinem popkulturellen Einfluss weit hinter zurück.
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thh
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von thh »

Schnitte hat geschrieben: Freitag 3. November 2023, 12:35Die sehr weite Interpretation des Double-Jeopardy-Grundsatzes im amerikanischen Recht hat uns immerhin Dinge wie den gleichnamigen Film mit Tommy Lee Jones eingebracht.
Wir könnten überhaupt sehr viel vom amerikanischen Strafprozess übernehmen, bspw. das Jury-Verfahren, durch das endlich - wegen Entfall zumindest der Beweiswürdigung - die immer länger werdenden Urteilsgründe verkürzt und die Revisionsgerichte entlastet - weil im Wesentlichen auf die Prüfung von Verfahrensrügen beschränkt - würden.
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Flasche leer
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Flasche leer »

thh hat geschrieben: Freitag 3. November 2023, 12:42
Schnitte hat geschrieben: Freitag 3. November 2023, 12:35Die sehr weite Interpretation des Double-Jeopardy-Grundsatzes im amerikanischen Recht hat uns immerhin Dinge wie den gleichnamigen Film mit Tommy Lee Jones eingebracht.
Wir könnten überhaupt sehr viel vom amerikanischen Strafprozess übernehmen, bspw. das Jury-Verfahren, durch das endlich - wegen Entfall zumindest der Beweiswürdigung - die immer länger werdenden Urteilsgründe verkürzt und die Revisionsgerichte entlastet - weil im :-k :-k Wesentlichen auf die Prüfung von Verfahrensrügen beschränkt - würden.
Hmh, bräuchte es da im Strafrecht unbedingt noch vollumfänglich auf Augenhöhe ausgebildete Juristen, wenn Entscheidungen in den Händen von Jurys liegen sollten? :-k
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Strich
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Strich »

thh hat geschrieben: Freitag 3. November 2023, 12:42
Schnitte hat geschrieben: Freitag 3. November 2023, 12:35Die sehr weite Interpretation des Double-Jeopardy-Grundsatzes im amerikanischen Recht hat uns immerhin Dinge wie den gleichnamigen Film mit Tommy Lee Jones eingebracht.
Wir könnten überhaupt sehr viel vom amerikanischen Strafprozess übernehmen, bspw. das Jury-Verfahren, durch das endlich - wegen Entfall zumindest der Beweiswürdigung - die immer länger werdenden Urteilsgründe verkürzt und die Revisionsgerichte entlastet - weil im Wesentlichen auf die Prüfung von Verfahrensrügen beschränkt - würden.
Stimmt, dass wäre ein weiterer Vorteil des Jury Prozesses.
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Schnitte »

Flasche leer hat geschrieben: Freitag 3. November 2023, 14:54 Hmh, bräuchte es da im Strafrecht unbedingt noch vollumfänglich auf Augenhöhe ausgebildete Juristen, wenn Entscheidungen in den Händen von Jurys liegen sollten? :-k
Es liegt im angloamerikanischen System ja nur die Beweiswürdigung zur Feststellung der Schuldfrage in den Händen der Jury. Strafmaß, Verfahrensführung und Entscheidungen über die Zulassung von Beweisen liegen immer noch in den Händen des juristisch qualifizierten Richters, der außerdem durch häufige Anleitungen und Warnungen die Jury darauf hinweist, was sie bei ihrer Entscheidungsfindung zu bedenken hat und was nicht.

So ganz fremd ist uns das System übrigens nicht - gab es in Deutschland bis 1924.
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Flasche leer
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Flasche leer »

Schnitte hat geschrieben: Freitag 3. November 2023, 15:44
Flasche leer hat geschrieben: Freitag 3. November 2023, 14:54 Hmh, bräuchte es da im Strafrecht unbedingt noch vollumfänglich auf Augenhöhe ausgebildete Juristen, wenn Entscheidungen in den Händen von Jurys liegen sollten? :-k
Es liegt im angloamerikanischen System ja nur die Beweiswürdigung zur Feststellung der Schuldfrage in den Händen der Jury. Strafmaß, Verfahrensführung und Entscheidungen über die Zulassung von Beweisen liegen immer noch in den Händen des juristisch qualifizierten Richters, der außerdem durch häufige Anleitungen und Warnungen die Jury darauf hinweist, was sie bei ihrer Entscheidungsfindung zu bedenken hat und was nicht.

So ganz fremd ist uns das System übrigens nicht - gab es in Deutschland bis 1924.
OK, aber bräuchte es dafür unbedingt vollumfängliche Strafrechtsausbildung auf Augenhöhe für alle? In den USA eventuell nicht? Dort sollte es vielleicht keine dem deutschen Recht vergleichbar unbedingt notwendige Befähigung zum Richteramt auf Augenhöhe für alle geben, wie für Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Richter, Jury?
Es kann ja angedacht sein, Dinge aus den USA zu übernehmen. Allerdings kann dies weiter hierzulande bislang für unverzichtbar erachtete Dinge betreffen. Das deutsche Recht will sich als besonders qualitätsvoll gegenüber anderen Rechtssystemen erachten, weil hier maßgeblich hochqualifizierte Juristen nach fachlich sachlichen systemischen Gesichtspunkten Entscheidungen tragen und keine Jurys aus der übrigen Bevölkerung. Kann darüber nachzudenken sein, Jurys zu übernehmen. Das könnte allerdings an der "überlegenen Qualität" des deutschen Rechtssystems weiter rütteln, wonach Entscheidungen von hochqualifizierten Juristen auf Augenhöhe nach rein fachliche, sachlich, systemischen Gesichtspunkten getragen werden?
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Urs Blank »

Wer hier mit dem Jury-System liebäugelt: In den USA ist es längst am Ende. Nur noch in einem Bruchteil aller Strafverfahren findet tatsächlich ein Jury-Trial statt. Die überwiegende Zahl der Verfahren wird im Wege des (stark umstrittenen) "plea bargaining" wegverhandelt.

Lesetipp: https://www.amazon.de/Punishment-Withou ... 179&sr=8-1
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Flasche leer »

Urs Blank hat geschrieben: Freitag 3. November 2023, 21:01 Wer hier mit dem Jury-System liebäugelt: In den USA ist es längst am Ende. Nur noch in einem Bruchteil aller Strafverfahren findet tatsächlich ein Jury-Trial statt. Die überwiegende Zahl der Verfahren wird im Wege des (stark umstrittenen) "plea bargaining" wegverhandelt.

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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Flasche leer »

Wieso soll Wiederaufnahme zu Gunsten eines Verurteilten zulässig sein, obwohl doch die Wichtigkeit der Rechtskraft die Richtigkeit eines Urteils und die Gerechtigkeit überwiegen soll, jedenfalls im umgekehrten Fall? Es heißt doch Richtigkeit eines Urteils und Gerechtigkeit müssen ("uneinschränkbar") hinter der Wichtigkeit der Rechtskraft zurücktreten? Ok, jetzt kommt wieder Relativierung von Gerechtertigkeit wegen nicht ausschließbarer Unschuld. Die Begründung ist aber, dass es gar nicht um Gerechtigkeit gehen könne, weil diese uneinschränkbar hinter der Wichtigkeit von Rechtskraft zurücktreten muss.... :silly:
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von thh »

Urs Blank hat geschrieben: Freitag 3. November 2023, 21:01Wer hier mit dem Jury-System liebäugelt: In den USA ist es längst am Ende. Nur noch in einem Bruchteil aller Strafverfahren findet tatsächlich ein Jury-Trial statt. Die überwiegende Zahl der Verfahren wird im Wege des (stark umstrittenen) "plea bargaining" wegverhandelt.
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Ara
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Ara »

Flasche leer hat geschrieben: Freitag 3. November 2023, 21:32 Wieso soll Wiederaufnahme zu Gunsten eines Verurteilten zulässig sein, obwohl doch die Wichtigkeit der Rechtskraft die Richtigkeit eines Urteils und die Gerechtigkeit überwiegen soll, jedenfalls im umgekehrten Fall? Es heißt doch Richtigkeit eines Urteils und Gerechtigkeit müssen ("uneinschränkbar") hinter der Wichtigkeit der Rechtskraft zurücktreten? Ok, jetzt kommt wieder Relativierung von Gerechtertigkeit wegen nicht ausschließbarer Unschuld. Die Begründung ist aber, dass es gar nicht um Gerechtigkeit gehen könne, weil diese uneinschränkbar hinter der Wichtigkeit von Rechtskraft zurücktreten muss.... :silly:
Das ist eigentlich ganz einfach: Der Rechtsfrieden im Strafrecht tritt zwischen Gesellschaft und Beschuldigten ein (nicht zwischen Geschädigten und Beschuldigten). Die Gesellschaft hat sich Regeln, wie die Rechtsstaatlichkeit, auferlegt und ist daran gebunden. Der Beschuldigte hat sich solche Regeln nicht selbst auferlegt. Auch ist es die Gesellschaft, welche die Konfliktlösung aufzwingt, gegen die sich der Beschuldigte nicht wehren kann. Sogar im Gegenteil: Der Beschuldigte kann die Konfliktlösung gar nicht selbst erzwingen (zB eine Feststellung, dass er keine Straftat begangen hat).

Daher wiegt ein Fehlurteil zu Ungunsten des Beschuldigten immer schwerer als zu Gunsten des Beschuldigten.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Flasche leer »

Hmh, die Diskussion ist bereits vielerorts erschöpfend geführt und sollte hier gar nicht neu entfacht werden.
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famulus
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von famulus »

Wieso fragst du dann?
»Ich kenne den Schmerz, den ich hatte, weil ich zweimal die Vorhaut mit dem Reißverschluss mitgenommen habe, so dass dieser - also Reißverschluss - einmal in einer Klinik entfernt werden musste.« - Chefreferendar
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Flasche leer »

War eher nur so als indirekt angedeutete Meinungsäußerung in Form einer Frage dahin gegrummelt. Damit soll es von hier aus erstmal gut sein.
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