Ara hat geschrieben: ↑Mittwoch 28. Mai 2025, 16:37Denn man kann nicht einfach ein offensichtlich falsches Urteil bestehen lassen, wenn da ein entgegenstehendes Wortlautprotkoll existiert. Andererseits würde man damit das Rekonstruktionsverbot der HV kippen, was letztendlich dann zu einer immensen Steigerung der Freisprüche führen muss. Ein großer Teil der Verurteilung kann ja revisionsrechtlich nur bestehen, weil der Tatrichter sich die Beweisaufnahme zurechtgebogen hat.
“Just because you're paranoid doesn't mean they aren't after you.”
Ara hat geschrieben: ↑Mittwoch 28. Mai 2025, 16:37Man kann nicht konzentriert zuhören, fragen stellen und dann auch noch mitschreiben. Es entstehen zwangsweise Lücken, die man sich dann nach eigenem Gusto zusammenreimen muss.
Es nehmen 3-5 Berufsrichter an der Hauptverhandlung teil, man kann also durchaus das Stellen der Fragen und das zuhören und mitschreiben trennen.
Wer nicht konzentriert zuhören und mitschreiben kann (und auch kein eidetisches Gedächtnis hat), hat ohnehin ein Problem, ganz gleich, in welcher Funktion er an der Hauptverhandlung teilnimmt. Auch als Verteidiger - oder Staatsanwalt - muss man das (zumindest einigermaßen) beherrschen, weil man sonst der Hauptverhandlung nicht folgen und auf Entwicklungen nicht reagieren kann.
(Ich habe im Übrigen deutlich mehr Verteidiger erlebt, die nicht wussten, was die Zeugen tatsächlich ausgesagt haben, sondern nur, was in der schriftlichen Vernehmung stand, und dementsprechend falsche Vorhalte gemacht - und sich im Zweifel bei Beanstandung furchtbar echauffiert - haben, als ich mit dem Verlauf der Hauptverhandlung nicht übereinstimmende Urteile erlebt habe.
Ara hat geschrieben: ↑Mittwoch 28. Mai 2025, 16:37Das heißt die KI muss entweder mit Schriftsätzen (Zivilrecht) oder der Ermittlungsakte (Strafrecht) gefüttert werden. Dann müssen Standardsachen draus extrahiert werden: Tatort, Tatzeit, Beteiligte mit ihren Rollen und Daten. Das alles als Schnellübersicht. Als Beispiel aus dem Strafrecht: Man muss mit einem Blick wissen wer Herr Müller ist, wann und wie oft er beim wem ausgesagt hat.
Das ist ein typisches Beispiel dafür, dass man immense Ressourcen (und ja, KI ist ein immenser Ressourcenfresser und alles andere als "nachhaltig") darauf wird, aus unstrukturierten Daten Strukturen zu extrahieren, statt die Struktur mitzuliefern.
Gerade im Strafrecht entstehen Akten ja nicht im leeren Raum, sondern werden weit überwiegend von den Strafverfolgungsbehörden zusammengestellt, die die Kerndaten - Tatort, Tatzeit, Beteiligte mit ihren Rollen und Daten - dabei erfassen, um dann daraus Textprodukte zu generieren. Wann und wie oft er beim wem ein Zeuge ausgesagt hat wird bisher nicht erfasst, das wäre aber trivial aus den vorhandenen Daten zu extrahieren. Es ist nachgerade Irrsinn, das nicht zu tun und stattdessen die Daten per KI zu extrahieren.
Ara hat geschrieben: ↑Mittwoch 28. Mai 2025, 16:37Dann sollte die KI Fragen zu Akte beantworten können: "Welche Zeugen haben alle ein Messer gesehen?" dann gibt er die Auflistung mit den Fundstellen raus, "Wieviel Zeit verging zwischen dem ersten Streit, dem zweiten Streit und dem Eintreffen der Polizei", "Welche Verletzungen hatte das Opfer" usw... DAS würde in einem ersten Schritt schon enorm hilfreich sein. Gar nicht für den ersten Einstieg in die Akte, aber wenn man die Sache Wochen oder Monate später noch einmal auf dem Schreibtisch hat oder in der Hauptverhandlung sitzt. Das sollte technisch heute auch alles machbar sein. In einem nächsten Schritt könnte die KI dann natürlich auch Aussagen abgleichen. "Zeige mir die Differenzen zwischen allen Aussagen des Herrn Müller" oder "Zeige mir die Abweichungen und Gemeinsamkeiten in den aussagen von Peter und Klaus".
Wenn eine KI das (zuverlässig!) könnte, wäre das sehr hilfreich, ja. Ich sehe das bisher nicht.
Ara hat geschrieben: ↑Samstag 31. Mai 2025, 12:05
Und ja, sowas kommt in der Praxis vor. Ich hab da ein relativ frisches Beispiel gerade vom OLG bekommen. Gericht verurteilt in der Berufungsinstanz, weil im Merkbuch einer Polizeibeamtin gestanden haben soll, dass ein Zeuge sagte "er kam dazu und habe sich verteidigt". Strittig ist, ob die Person "geschlagen" hat oder die nur "auseinandergehalten" hat. Das Merkbuch ist nicht verlesen worden und damit war es nicht Gegenstand der Hauptverhandlung (ergibt sich eindeutig aus dem Protokoll). In der Beweiswürdigung stand, dass die Polizeibeamtin sich in der Berufungshauptverhandlung nicht daran erinnern würde, ob der Zeuge sagte "habe sich verteidigt" oder "habe eingegriffen". Weiter im Urteil "Auch auf Vorhalt Ihres Merkbuches kamen keine Erinnerungen mehr auf". Trotzdem hat das Gericht verurteilt, weil im Merkbuch stand "sich verteidigt" und das Gericht sagt, damit sei "schlagen" gemeint und nicht nur "auseinanderhalten".
Die Inbegriffsrüge hatte keinen Erfolg, weil das Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung entgegenstand.
Ich sehe das Problem nicht. Ein Defizit des Strafprozessrechts - dass die notwendig nachlassende Erinnerung von Zeugen nicht durch Rückgriff auf unmittelbar gemachte Aufzeichungen ausgeglichen werden kann - wird durch ein anderes kompensiert.
Ara hat geschrieben: ↑Sonntag 1. Juni 2025, 08:49Sie hätte prozessordnungsgemäß in der HV einfach das Merkbuch verlesen müssen.
Wie verliest man denn prozessordnungsgemäß Urkunden über Aussagen von Zeugen oder Angeklagten, also über Wahrnehmungen einer Polizeibeamtin?